Dafür sah Mogens nun umso genauer hin und entdeckte auch an Toms Handgelenk, Hals und Knöchel hellgrauen Verbandsstoff, der unter seiner Kleidung hervor lugte. Sein schlechtes Gewissen meldete sich. Er war bisher nicht einmal auf den Gedanken gekommen, dass Tom vielleicht auch verletzt sein könnte.
»Das ist nichts«, sagte Tom hastig, als er seinen Blick bemerkte. »Nur ein paar Schrammen.«
Wenn Tom nicht darüber reden wollte, dann war das seine Sache, fand Mogens. »Wenigstens warst du klug genug, dich nicht von Graves verbinden zu lassen«, sagte er.
Tom lachte, aber es konnte nicht darüber hinwegtäuschen, wie unangenehm ihm das Thema war. Mogens beschloss, es zu wechseln.
»Ist Doktor Graves schon oft schwer verletzt worden?«, fragte er.
»Das eine oder andere Mal«, antwortete Tom und begann unbehaglich von einem Fuß auf den anderen zu treten. Im nächsten Augenblick zwang er sich zu einem jungenhaften Grinsen und drohte Mogens spöttisch mit dem Finger. »Sie wollen mich aushorchen, Professor«, sagte er. »So etwas gehört sich nicht.«
Mogens blieb ernst. »Ja«, sagte er gerade heraus. »Meinst du denn nicht auch, dass es allmählich an der Zeit wäre, mir alles zu erzählen, Tom?«
»Professor?«
»Stell dich nicht dumm, Tom - und behandle mich nicht, als wäre ich dumm«, sagte Mogens, allerdings in einem Ton, der den Worten den allergrößten Teil ihrer Schärfe gleich wieder nahm. »Graves hat mir eine Menge verraten, aber gewiss nicht alles.«
»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen, Professor«, antwortete Tom. Sein Ton war merklich kühler geworden. »Wenn da etwas ist, was Sie nicht verstehen, dann sollten Sie Doktor Graves fragen. Ich bin nur sein Gehilfe.«
Mogens konnte fast körperlich fühlen, wie die Stimmung kippte; als wären die Temperaturen im Raum schlagartig um mehrere Grade gesunken. Er bedauerte das. Tom war der Letzte, dem er irgendeinen Vorwurf machen wollte. Aber nun, wo er einmal so weit gegangen war, konnte er ebenso gut auch weitermachen. Es gab zwar keinen wirklichen Grund dafür, aber tief in sich spürte Mogens, dass seine Zeit ablief.
»Das ist wohl wahr«, antwortete er. »Unglückseligerweise weicht der Doktor meinen entsprechenden Fragen aus. Dort unten ist noch mehr als ein fünftausend Jahre altes Grab, habe ich Recht?«
Tom begann sich regelrecht zu winden, aber sein Gesicht nahm zugleich auch einen Ausdruck von Verstocktheit an, dass Mogens begriff, dass er nichts weiter aus ihm herausholen würde. Er hatte das zerbrechliche Verhältnis zwischen ihnen vollkommen umsonst belastet.
»Ich muss jetzt gehen, Professor«, sagte Tom kühl. »Es ist schon spät, und ich hab noch viel zu tun.« Er deutete, schon im Herumdrehen, auf das Bündel, das er auf den Stuhl gelegt hatte. »Ich hab Ihnen saubere Kleidung gebracht. Doktor Graves ist zwar der Meinung, Sie sollten wenigstens ein paar Stunden schlafen, aber ich glaub, das werden Sie sowieso nicht tun.«
Mogens wartete, bis er bei der Tür war und die Hand nach der Klinke ausstreckte, dann sagte er: »Noch eine letzte Frage, Tom.«
Tom bleib zwar deutlich widerwillig stehen, aber er blieb stehen und sah stumm über die Schulter zu ihm zurück.
»Gestern Nacht, Tom«, sagte Mogens. »In der Tempelkammer. Du hast deine Lampe auf das Tor gerichtet.«
Tom nickte. Sein Gesicht erstarrte zu Stein.
»Was hast du gesehen, Tom?«, fragte Mogens.
Tom starrte ihn eine weitere, endlose Sekunde lang ausdruckslos an, dann sagte er kühclass="underline" »Ich weiß nicht, wovon Sie reden, Professor«, und verließ fast fluchtartig das Haus.
35.
Mogens blieb nicht nur vollkommen verstört zurück, sondern auch mit einem überaus schlechtem Gewissen. Er hatte Tom nicht einfach nur verunsichert, sondern auch zutiefst verletzt, und das hatte er ganz gewiss nicht gewollt. Zugleich fragte er sich allerdings auch, warum Tom so überaus verschreckt auf diese Frage reagiert hatte.
Die Antwort war so offensichtlich, dass Mogens ganz automatisch den Kopf schüttelte, sie sich überhaupt hatte stellen zu müssen. Er hatte etwas gesehen, und es hatte ihn erschreckt - aber kein bisschen überrascht.
Wieso aber konnte er sich nicht daran erinnern?
Mogens spürte, wie seine Gedanken schon wieder auf Pfaden zu wandeln begannen, die sie am Ende vielleicht genau dorthin führen würden, wo das Janice-Ding in der Dunkelheit wohnte, und das würde er im Moment nicht ertragen.
Mogens wandte sich einem näher liegenden Problem zu: Tom hatte ihm zwar frische Kleider gebracht, aber mit seinen bandagierten Händen war er kaum in der Lage, sie hochzuheben, und ganz gewiss nicht, sie anzuziehen. Darüber hinaus musste er wissen, was mit seinen Händen geschehen war. Tom hatte behauptet, die Verletzung wäre nicht so schlimm, aber auf der anderen Seite hatte Graves darauf bestanden, sie ihm höchstpersönlich und noch dazu auf diese sonderbare Weise zu bandagieren, und Jonathan tat prinzipiell nichts Sinnloses.
Mogens sah sich unversehens mit einem neuen, vollkommen unerwarteten Problem konfrontiert, als er damit begann, seine Bandagen zu lösen. Durch die eng geschnürten Binden praktisch des Geschickes beider Hände beraubt, war es ihm nahezu unmöglich, den straff angelegten Verbandsstoff auch nur zu lockern. Erst, als er die Zähne zu Hilfe nahm, gelang es ihm, einen Anfang an seiner linken Hand zu machen. Er bezahlte dafür mit so heftigen Schmerzen, dass ihm die Tränen in die Augen schossen, und fast noch schlimmer war der Geschmack. Graves musste die Verbände mit irgendeiner Salbe oder Tinktur getränkt haben. Obwohl Mogens sorgfältig darauf achtete, dass seine Lippen nicht mit dem groben Verbandsstoff in Berührung kamen, löste der Geschmack ein so heftiges Gefühl von Übelkeit in seinem Magen aus, dass er sich um ein Haar übergeben hätte. Dennoch arbeitete er verbissen weiter und lockerte nach und nach einen Streifen nach dem anderen, bis sich der Verband schließlich vollends löste und mit einem sonderbar schweren und nassen Laut zu Boden fiel.
Was darunter zum Vorschein kam, war so verblüffend, dass Mogens für einen Moment sowohl den tobenden Schmerz als auch die kaum minder quälende Übelkeit vergaß.
Er hatte erwartet, seine Finger aufs Schrecklichste verstümmelt zu erblicken, denn seine Hände fühlten sich nicht nur an, als wären sie gehäutet worden, sondern darüber hinaus auch noch, als wäre jeder einzelne Knochen darin gebrochen.
Aber sie waren vollkommen unversehrt. Mogens gewahrte nicht den winzigsten Kratzer; allenfalls zwei oder drei Stellen, an denen die Haut leicht gerötet war. Dazu kam noch etwas, das ihm erst nach einigen weiteren Augenblicken richtig bewusst wurde: Jetzt, da er den Verband entfernt hatte, ließen die Schmerzen rasch nach. Was zurückblieb, war ein allenfalls noch unangenehmes Brennen und Kribbeln.
Hastig und nun im Besitz einer funktionstüchtigen Hand, entfernte er auch den Verband von seiner Rechten und wurde mit demselben, fast schon unheimlichen Anblick belohnt. Auch seine rechte Hand war nahezu unversehrt; ein paar Schrammen, die er sich wahrscheinlich zugezogen hatte, als er auf der Trümmerhalde gestürzt war, und auch die Schmerzen in dieser Hand ließen sofort nach, nachdem er den Verband entfernt hatte.
Noch etwas fiel ihm auf: Seine Haut war von einer dünnen, klebrigen Schicht bedeckt, die einen leicht scharfen, aber nicht einmal wirklich unangenehmen Geruch verströmte. Was zum Teufel hatte ihm Graves da auf die Finger geschmiert? Und vor allem: Warum?
Tom war vorausschauend genug gewesen, ihm nicht nur ein kräftiges Frühstück zu bringen, sondern auch eine Schale mit frischem Wasser. Nachdem er die schleimige Schicht vollends abgewaschen und seine Hände schließlich schon fast übertrieben sorgsam trocken gerieben hatte, wurde sein Verdacht zur Gewissheit: Die Schmerzen waren wie weggeblasen. Nicht irgendeine Verletzung, die er sich im Laufe der vergangenen Nacht zugezogen hatte, war für die Schmerzen verantwortlich gewesen, sondern die Salbe, die Graves auf seine Verbände gegeben hatte.