Mogens wurde für einen Moment zornig, beruhigte sich aber dann auch fast ebenso schnell wieder.
Graves mochte seine Gründe gehabt haben. Aber Mogens nahm sich fest vor, ihn zu fragen, und sich diesmal auch ganz gewiss nicht mit irgendwelchen Halbwahrheiten oder Ausflüchten abspeisen zu lassen. Im Moment jedoch hatte er Wichtigeres zu tun.
Nachdem er sich angezogen hatte - die Kleider mussten Tom gehören, denn sie passten weder richtig, noch waren sie wirklich sauber -, machte er sich wie ein hungriger Wolf über das Essen her. Tom hatte seinen Appetit großzügig eingeschätzt; dennoch hatte er nicht das Gefühl, wirklich satt zu sein, obwohl er alles bis auf den letzten Krümel verzehrte.
Wie spät mochte es sein? Mogens durchwühlte die beklagenswerten Überreste seiner Kleider nach seiner Taschenuhr, ohne jedoch fündig zu werden, und vor dem einzigen, noch dazu nicht besonders großen Fenster waren die Läden vorgelegt, sodass im Innern der Hütte ein schummeriges Halbdunkel herrschte. Das wenige Licht jedoch, das durch die schmalen Ritzen der altersschwachen Läden drang, war so klar, dass es nur das eines noch recht jungen Tages sein konnte. Also hatte er noch nicht einmal sehr lange geschlafen, wenn man seinen Zustand und den immensen Blutverlust bedachte, den er erlitten hatte. Dennoch viel zu viel Zeit.
Mogens warf einen sehnsüchtigen Blick auf das zerwühlte Bett, dessen Laken so schweißnass waren, dass er den unangenehmen, säuerlichen Geruch selbst hier noch wahrnehmen konnte. Doch es half nicht. Sie hatten nur noch so wenig Zeit und so unendlich viele Fragen.
Entschlossen stand er auf und wandte sich zur Tür. Schon auf dem Weg dorthin wurde ihm wieder schwindelig, und es wurde nicht besser, als er das Haus verließ und sich quer über den schlammigen Platz hinweg auf den Weg zu Graves' Hütte machte.
Was die Tageszeit anging, so hatte er sich verschätzt, und zwar zu seinen Ungunsten. Die Sonne hatte den Zenith schon überschritten, und es musste nach zwei sein, wenn nicht drei.
Er war mindestens zwölf Stunden bewusstlos gewesen. Gott allein wusste, was in dieser Zeit unten in den Höhlen geschehen sein mochte oder welche Ungeheuer die ewige Nacht dort unten ausbrütete, um sie auf eine ahnungslose Welt loszulassen.
Allein auf dem kurzen Stück zu Graves' Hütte musste er zweimal innehalten, um neue Kraft zu schöpfen. Der üble Geschmack war noch immer in seinem Mund und sorgte dafür, dass er zumindest einen der Gründe nicht vergaß, aus denen er zu Graves unterwegs war, und er nutzte die zweite Zwangspause, die ihm Schwindel und Schwächegefühl auferlegte, um seine Hände noch einmal im hellen Sonnenlicht zu betrachten.
Sie waren nicht ganz so unversehrt, wie er noch vorhin geglaubt hatte. Zwar konnte er auch jetzt noch keine Verletzungen entdecken, die über einige vernachlässigbaren Schrammen hinausgingen, aber seine Haut war leicht gerötet - vor allem an den Handflächen -, und es gab zwei oder drei kleine nässende Stellen, die ihm vorher im schwachen Licht seiner Hütte nicht aufgefallen waren.
Mogens ballte prüfend erst die eine, dann die andere Hand zur Faust und ging dann weiter.
Graves öffnete nicht, als er gegen die Tür klopfte, zuerst zaghaft, dann etwas energischer und schließlich so laut, dass Graves es einfach hören musste, wenn er da war. Es erfolgte keine Reaktion.
Mogens wandte sich enttäuscht um und ließ seinen Blick unschlüssig über den weiten Platz und die Ansammlung unterschiedlich großer Gebäude schweifen. Graves konnte buchstäblich überall sein, in jenem einzelnen dieser Gebäude, selbst unten in den Höhlen, und er hatte nicht die Kraft, überall nach ihm zu suchen. Aber er konnte auch nicht einfach in seine Hütte zurückkehren und darauf hoffen, dass Graves früher oder später von selbst bei ihm auftauchte, um ihm all seine Fragen zu beantworten. Ebenso gut konnte er auch hier auf ihn warten.
Obwohl es ihm selbst nach allem, was geschehen war, nachgerade lächerlich vorkam, empfand er doch ein heftiges Gefühl von schlechtem Gewissen, als er die Türklinke herunterdrückte und das kleine Haus betrat. Auch hier waren die Läden vorgelegt, sodass Mogens seine Umgebung mehr erahnte als wirklich sehen konnte; eine Umgebung, die zudem nur aus verschwommenen Schatten und Schemen und allesamt gleichermaßen unwirklich wie bedrohlich anmutenden Umrissen zu bestehen schien. Mogens versuchte, sich die genaue Einrichtung und die Standorte des Mobiliars ins Gedächtnis zu rufen, um sich wenigstens unbeschadet an eines der Fenster vorzutasten, prallte prompt in der Dunkelheit gegen einen Stuhl, der mit einem lautstarken Poltern umfiel, und kam erst dann auf die nächstliegende Idee, nämlich kurzerhand die Tür offen zu lassen. Sein schlechtes Gewissen, das ihm sagte, dass er hier ein unerwünschter Eindringling war, hatte ihn wohl offensichtlich dazu veranlasst, sich auch wie ein solcher zu benehmen.
Beim zweiten Anlauf erreichte er das Fenster ohne größere Zwischenfälle oder Verletzungen, zog es auf und stieß auch den altersschwachen, zweigeteilten Laden nach außen. Das Sonnenlicht, das hereinströmte, wirkte im ersten Moment deplatziert; die Luft war voller Staub, der hell aufleuchtete wie ein Schwarm winziger goldfarbener Insekten, die allesamt im gleichen Sekundenbruchteil dem Licht zu nahe gekommen waren, und für einen winzigen Moment, jenen zeitlosen Augenblick, in dem die Dunkelheit zurück wich, ohne dass das Licht ihr bereits gefolgt war, schienen die Dinge rings um ihn herum eine vollkommen andere, bedrohliche Gestalt anzunehmen, sprungbereit lauernde Schatten, die Gesichter und Münder hatten und ihn gierig anstarrten; ihrer Beute noch nicht habhaft, aber schon gewiss.
Der Augenblick verging, ehe er auch nur wirklich erschrecken konnte, aber er ließ etwas wie einen neuerlichen, noch schlechteren Geschmack in ihm zurück. Diesmal nicht auf seiner Zunge, sondern auf seiner Seele.
Mogens verscheuchte den unheimlichen Gedanken, schalt sich im Stillen den Feigling, der er ganz offensichtlich auch war, und beeilte sich nun, auch zu den beiden anderen Fenstern zu eilen und sie aufzumachen; wie er sich selbst sogar einigermaßen erfolgreich einredete, weil es hier drinnen finster und die Luft so stickig war, dass man sie kaum noch atmen konnte, in Wahrheit aber wohl viel mehr, weil er Angst vor den Schatten hatte und den Dingen, die darin lebten.
Zumindest die Luft wurde merklich besser, auch wenn Mogens nun umso deutlicher wahrnahm, wie erbärmlich es hier drinnen stank - nach Graves' grässlichen Zigaretten, abgestandenem Essen und alten Büchern, aber auch nach noch etwas anderem, das er nicht richtig bezeichnen konnte, obgleich es eindeutig der unangenehmste Geruch von allem war.
Mit einiger Mühe gelang es ihm, sich auch von diesem Gedanken frei zu machen. Er war nicht hierher gekommen, um sich ein Urteil über Graves' Reinlichkeit oder seine Essgewohnheiten zu bilden. Er musste mit Graves sprechen - und vor allem musste er sich setzen, wollte er nicht Gefahr laufen, dass Graves ihn bewusstlos und zitternd auf dem Fußboden vorfand, wenn er zurückkam. Die kleine Anstrengung, das Zimmer dreimal zu durchqueren und die Fenster zu öffnen, war offensichtlich schon mehr, als er sich im Moment zumuten konnte.
36.
Mogens steuerte auf zitternden Knien die nächste Sitzgelegenheit an, die er entdeckte: den großen Ohrensessel hinter Graves' Schreibtisch, der zugleich das einzige Möbelstück im Raum war, das auch nur halbwegs bequem aussah. Minutenlang blieb er einfach dahinter sitzen, lauschte mit geschlossenen Augen auf das schwere Schlagen seines Herzens, das sich nur ganz allmählich wieder beruhigte, und genoss das Prickeln und Kribbeln, mit dem das Gefühl bleierner Schwere in seinen Gliedern in eine angenehme Müdigkeit überging. Erst nach einer geraumen Weile und nachdem sich auch das immer noch anhaltende Schwindelgefühl hinter seiner Stirn gelegt hatte, wagte er es wieder, die Lider zu heben.