Vielleicht hätte er das besser nicht getan. Der Raum war von einem hellen Sonnenlicht erfüllt, wie er es möglicherweise monatelang nicht mehr gesehen hatte, vielleicht überhaupt noch nie, seit Doktor Jonathan Graves hier eingezogen war, und dennoch machte das Licht ihn nicht wirklich hell. Es war wieder genau wie vorhin, als er das Fenster geöffnet hatte, ja diesmal beinahe noch schlimmer: In jenem zeitlosen Moment, in dem die Dunkelheit hinter seinen Lidern nicht mehr da war, das helle Licht der Nachmittagssonne seine Netzhäute aber auch noch nicht erreicht hatte, hatte er abermals das Gefühl, einen Blick in eine dritte, unheimliche Welt zu werfen, in die Dimensionen der Dämmerung, in der jener im Grunde gar nicht existente, winzige Augenblick für alle Zeiten gefangen war, den es zwischen der Schöpfung und dem absoluten Nichts gegeben haben mochte; samt all den unfertigen, von unvorstellbarem Hass auf alles Lebende und Fühlende beseelten Kreaturen, die darin lebten.
Auch dieser Moment war zu schnell vorüber, um ihn wirklich zu erschrecken - aber plötzlich empfand er einen tiefen, beinahe schon an Hass grenzenden Groll auf Graves. Dieses Gefühl war nicht neu. Weder sein Zorn noch diese irreale Angst vor der Dunkelheit, die kindische und eines Wissenschaftlers wie ihm durch und durch unwürdige, deswegen aber nicht weniger schlimme Furcht vor der Nacht mit ihren Bewohnern, die ihn so lange heimgesucht und ihm so unendlich viele Albträume und Visionen beschert hatte. Er hatte geglaubt, wenigstens das überwunden zu haben, zumindest diesen Teil des Preises für seinen schrecklichen Verrat an Janice endgültig bezahlt zu haben, aber nun hatte ihm Graves selbst diese kleine Gnade genommen. Die Schuld war nicht bezahlt, sondern war um ein weiteres Leben angewachsen. Die Visionen waren wieder da, und mit ihnen die Furcht. Vielleicht war das die Strafe, die sich das Schicksal für ihn ausgedacht hatte. Vielleicht reichten ihm Einsamkeit und Ausgestoßensein noch nicht, und seine wahre Sühne bestand darin, für den Rest seines Lebens einen Blick in diesem Abgrund zwischen den Welten werfen zu müssen. Vielleicht würde er nie wieder einen dunklen Raum betreten können, nie wieder einen Sonnenuntergang erleben, ohne dass er Angst davor hatte, nie wieder das Privileg genießen, einfach nur die Augen schließen zu dürfen, ohne Furcht vor dem Moment, in dem er sie wieder öffnete.
Vielleicht war er aber auch nur zu Tode erschöpft und am Ende seiner Kräfte und hatte das, was er in der vergangenen Nacht unten in der Tempelkammer erlebt hatte, noch nicht hinreichend verarbeitet. Er wusste ja noch nicht einmal wirklich, was es gewesen war.
Von einer plötzlichen inneren Unruhe gepackt, die es ihm einfach unmöglich machte, weiter still sitzen zu bleiben, stand er auf, begann ruhelos in dem kleinen Zimmer auf und ab zu gehen und trat schließlich an das schwere Bücherregal hinter Graves' Schreibtisch heran; nicht einmal so sehr, weil ihn die Bücher tatsächlich interessiert hätten, sondern weil es einfach zu seinen Gewohnheiten gehörte, sich den Inhalt der Bücherregale anzusehen, wenn er irgendwo zum ersten Mal war. In den meisten Fällen eine sehr zuverlässige Methode, sich einen ersten Eindruck von seinem Besitzer zu verschaffen. Mogens war weder zum ersten Mal hier, noch hatte er es nötig, sich einen Eindruck von Jonathan Graves zu verschaffen; aber der schreckliche Moment schien immer noch nicht ganz vorüber zu sein. Obwohl sich die Schatten zurückgezogen hatten und der Abgrund zwischen Tag und Nacht zumindest im Moment wieder versiegelt zu sein schien, kam ihm dieses Zimmer und insbesondere seine Einrichtung nicht wirklich richtig vor. Mogens konnte das Gefühl nicht in Worte fassen, nicht einmal in jene nonverbale Gedankensprache, die mit Gefühlen und bizarren Querverweisen und Erinnerungsfetzen arbeitete. Etwas hier drinnen war nicht so, wie es sein sollte. Es war, als wäre die Welt um eine Winzigkeit aus ihrer Balance gekippt und hätte sich in eine Richtung geneigt, von der er bisher nicht einmal gewusst hatte, dass es sie gab - und es auch gar nicht wissen wollte. Vielleicht war dieses Bücherregal mit seinen vertrauten Umrissen und den ihm zum allergrößten Teil ebenso geläufigen Titeln das einzig noch normal Gebliebene in diesem Raum, etwas wie ein Rettungsanker, an den er sich klammern konnte, um nicht endgültig den Halt in der Wirklichkeit zu verlieren.
Auch das war etwas, was Mogens bereits ernsthaft in Betracht gezogen hatte: die Frage, ob er vielleicht im Begriff war, den Verstand zu verlieren. Mogens war kein starker Mann, weder körperlich noch mental. Er hatte sich ganz im Gegenteil schon oft gefragt, wieso er die Ereignisse jener fürchterlichen Nacht vor neun Jahren bei einigermaßen gesundem Verstand verkraftet hatte - Ereignisse, an denen manche sehr viel stärkere Charakter ganz zweifellos zerbrochen wäre. Eine Antwort auf diese Frage hatte er nie gefunden, aber vielleicht hatte er sie jetzt, und vielleicht lautete sie einfach: Nein.
Mogens spürte die Gefahr, die hinter diesen Gedanken lauerte. Mit zitternden Händen griff er sich wahllos eines der Bücher, nahm es vom Regal und schlug es auf. Es war ein Band über das frühe Ägypten, von dem es auch ein Exemplar in seiner eigenen kleinen Bibliothek in seinem Zimmer in Miss Preusslers Pension in Thompson gab und den er so gut kannte, dass er manche Passagen auswendig rezitieren konnte. Dennoch schienen die Buchstaben im allerersten Moment nicht den geringsten Sinn zu ergeben. Mogens starrte die aufgeschlagenen Seiten an, doch er hätte ebenso gut auch eine Tonscherbe mit bisher noch nicht übersetzten, fünftausend Jahre alten Hieroglyphen in den Händen halten können.
»Darf ich fragen, was du da tust?«, fragte eine scharfe Stimme hinter ihm.
Mogens fuhr mit einer so schuldbewussten Bewegung zusammen, dass er das Buch um ein Haar fallen gelassen hätte, und drehte sich so hastig um, dass ihm schon wieder leicht schwindelig zu werden drohte. Graves hatte das Haus nicht nur vollkommen lautlos betreten, sondern sich auch dem Schreibtisch bis auf weniger als einen Schritt genähert, ohne dass Mogens es auch nur bemerkt hatte. Er sah sehr zornig aus.
»Jonathan«, stammelte Mogens.
Graves' Gesicht verfinsterte sich noch weiter. »Nun«, sagte er, »immerhin scheinst du dich ja wenigstens noch an meinen Namen zu erinnern. Wenn du schon vergessen hast, wessen Unterkunft das hier ist.«
»Das habe ich keineswegs«, entgegnete Mogens in einem, wie er meinte, ebenso kühlen wie selbstbewussten Ton, der Graves aber nicht im Geringsten zu beeindrucken schien.
»Wenn das so ist, dann muss ich mich doch sehr wundern«, versetzte Graves. »Oder gehört es zu deinen schlechten Angewohnheiten, die Privatsachen anderer zu durchwühlen?«
Im ersten Moment verstand Mogens nicht einmal genau, wovon er überhaupt sprach. Dann sah er verblüfft auf den aufgeschlagenen Band in seinen Händen und schließlich wieder in Graves' Gesicht. »Aber es ist doch nur ein Buch«, sagte er verwirrt.
»Ich schätze es trotzdem nicht, wenn jemand in meinen Sachen herumstöbert«, antwortete Graves. »Schon lange nicht, wenn ich nicht dabei bin.« Er eilte um den Schreibtisch herum, nahm Mogens das Buch mit einer rüden Bewegung aus den Händen und stellte es an seinen Platz zurück; wenigstens versuchte er es. Aber er war so zornig und aufgebracht, dass er sich dabei ungeschickt genug anstellte, den Einband zu knicken. Schließlich warf er das Buch mit einer ärgerlichen Geste auf den Schreibtisch und funkelte Mogens an.