»Was, zum Teufel, hast du dir dabei gedacht?«, fauchte er.
Mogens prallte vor dem lodernden Zorn zurück, den er in Graves' Augen las. Er hatte erwartet, dass Graves mit einem gewissen Unmut auf dieses unerlaubte Eindringen in seine Privatsphäre reagieren würde - aber was er in Graves' Augen las, das war kein Ärger, sondern blanke Wut; mehr noch, er spürte ganz deutlich, dass Graves sich nur noch mühsam beherrschen konnte, sich nicht auf ihn zu stürzen und ihn durchzuschütteln, wenn nicht gar Schlimmeres.
»Ich... ich wollte nur mit dir reden, Jonathan«, sagte er verwirrt. »Ich versichere dir... dass...«
»Steck dir deine Versicherungen irgendwo hin!«, unterbrach ihn Graves. Für einen Moment verwandelte sich das Lodern in seinem Blick in blanke Mordlust, und Mogens prallte erneut um noch zwei weitere stolpernde Schritte zurück.
Vielleicht war es diese Reaktion, die Graves wieder zur Vernunft brachte. Einen Atemzug lang starrte er Mogens noch hasserfüllt an, aber dann machte die mörderische Wut einem Ausdruck ebenso großer Betroffenheit Platz. Verwirrt trat er von einem Fuß auf den anderen, streckte die Hand im Mogens' Richtung aus und ließ den Arm dann fast hastig wieder sinken, als Mogens abermals zusammenfuhr und vorsichtshalber noch einen weiteren Schritt Distanz zwischen sie brachte.
»Ich...« Graves fuhr sich fahrig mit dem Handrücken seines schwarzen Handschuhs über die Lippen. Er musste zwei-, oder dreimal schlucken, um überhaupt weiter sprechen zu können. »Es tut mir Leid, Mogens«, sagte er schließlich. »Ich... ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist. Ich habe mich aufgeführt wie ein Idiot. Bitte verzeih mir.«
»Schon gut«, sagte Mogens. Es war nicht einmal gelogen. Er war Graves nicht einmal wirklich böse. Dazu war er viel zu verwirrt.
»Nein, es ist nicht gut«, widersprach Graves nervös. »Ich weiß auch nicht, was...« Er brach ab, rettete sich in ein beinahe hilflos wirkendes Kopfschütteln und drehte sich schließlich mit einem Ruck weg. Einige Sekunden lang beschäftigte er sich damit, das Buch vom Schreibtisch zu nehmen und mit jetzt schon fast übertrieben langsamen, präzisen Bewegungen an seinen Platz zurückzustellen.
»Es tut mir Leid«, sagte er, nun wieder ruhiger, aber ohne auch nur in Mogens' Richtung zu sehen. »Ich glaube, wir sind alle ein bisschen nervös, nach gestern Nacht. Nimmst du meine Entschuldigung an?«
»Selbstverständlich«, antwortete Mogens. »Und so ganz Unrecht hattest du ja auch nicht. Ich hätte nicht ungefragt hier eindringen sollen.«
Graves wandte sich betont langsam zu ihm um. Er hatte sich nun wieder vollkommen in der Gewalt. »Das stimmt«, sagte er. »Das hättest du wirklich nicht.« Er war tatsächlich wieder ganz der alte Jonathan Graves.
»Was tust du überhaupt hier?«, fragte er. »Wolltest du dich umbringen, alter Junge? Du gehörst ins Bett! Von Rechts wegen gehörtest du in eine Klinik, zumindest aber in die Obhut eines guten Arztes.«
»Und warum bin ich es nicht?«, fragte Mogens.
»Weil uns dafür keine Zeit bleibt, fürchte ich«, antwortete Graves ernst. »Heute ist der letzte Tag, Mogens. In wenigen Stunden geht die Sonne unter. Du solltest die Zeit wirklich nutzen, um noch ein wenig Kraft zu schöpfen.«
Es dauerte einen Moment, bis Mogens überhaupt begriff, wovon Graves sprach. Er konnte sogar selbst spüren, wie ihm alles Blut aus dem Gesicht wich. »Du willst noch einmal dort hinunter?«, murmelte er ungläubig.
»Selbstverständlich«, antwortete Graves. »Du etwa nicht?«
Mogens konnte ihn nur fassungslos anstarren.
»Du etwa nicht?«, wiederholte Graves.
»Na... natürlich nicht«, antwortete Mogens stockend. »Wie... wie kannst du auch nur auf die Idee kommen? Hast du vergessen, was gestern Nacht dort unten passiert ist?«
»Nicht einen Augenblick lang«, versicherte Graves grimmig. »Aber du anscheinend.« Er schnitt Mogens mit einer wütenden Geste das Wort ab, bevor dieser auch nur zu einer Erwiderung ansetzen konnte. »Wir stehen ganz kurz vor der Lösung, Mogens! Noch wenige Stunden, begreifst du das nicht? Die größte wissenschaftliche Entdeckung dieses Jahrhunderts - ach was, aller Zeiten! -, und du fragst mich, ob ich noch einmal dort hinunter will? Bist du von Sinnen?«
Mogens schwieg. Graves war schon wieder dabei, sich in Rage zu reden, und er war wenig versessen darauf, ihn noch einmal in demselben Zustand zu erleben wie gerade. Dennoch ließ ihn allein die Vorstellung, noch einmal dort hinunterzugehen, einen eisigen Schauer des Entsetzens über den Rücken laufen.
»Was genau erwartest du dort unten zu finden?«, fragte er, so ruhig er konnte.
Graves starrte ihn mit übertrieben geschauspielerter Verblüffung an.
»Stellst du diese Frage im Ernst?«
»Mir ist noch nie zuvor im Leben etwas so ernst gewesen, Jonathan«, antwortete Mogens. Diesmal war er es, der Graves das Wort abschnitt, noch bevor er wirklich antworten konnte. »Ich war dort unten, und ich habe gesehen, was dort ist - aber ich bin immer weniger sicher, ob wir beide wirklich dasselbe gesehen haben.«
Graves starrte ihn an. Er schwieg, aber in seinem Gesicht arbeitete es, und Mogens spürte, dass er auf dem richtigen Wege war. Tief in ihm erwachte etwas, was weit schlimmer war als die Mischung aus Hass und Verachtung, die er Graves bisher entgegengebracht hatte: Eine gewaltige, immer größer werdende Empörung. Graves hatte ihn belogen. Wieder einmal, und vielleicht von Anfang an.
»Es geht dir gar nicht um den Tempel, habe ich Recht?«, fragte er.
Graves schwieg verbissen weiter, aber das gab dem ungeheuerlichen Verdacht, der allmählich in Mogens Gestalt annahm, nur neue Nahrung. »Es ist dir nie darum gegangen, dass es dort unten einen fünftausend Jahre alten ägyptischen Tempel gibt«, fuhr er fort. »Du wolltest der Welt nie etwas beweisen. Ich weiß nicht, warum du hier bist, Graves, aber es geht dir nicht um eine wissenschaftliche Sensation. Das hast du nur den armen Narren erzählt, die für dich gearbeitet haben. O ja... und mir natürlich. Was suchst du wirklich?« Graves starrte ihn weiter nur an, aber für einen Moment zerbrach die Maske aus überheblicher Selbstsicherheit, und für den gleichen, fast zeitlosen Augenblick - kaum länger als der, in dem er in den Abgrund zwischen Tag und Nacht geblickt hatte - glaubte Mogens den wahren Jonathan Graves hinter dieser Maske zu erkennen: einen Mann mit brennenden Augen, verhärmtem Gesicht und versteinerter Seele, einen Getriebenen, dessen Leben und Tun nur von einem einzigen Gedanken beherrscht wurden. Graves war besessen. Er wusste nur noch nicht, wovon.
»Du bist ja verrückt«, murmelte Graves. Seine Stimme war jetzt fast sanft, klang zugleich auch irgendwie resignierend und verständnisvoll. Der Moment, begriff Mogens, war vorüber. Vielleicht für eine Sekunde war ihm einen Blick auf den wahren Jonathan Graves vergönnt gewesen, einen Mann, von dem er plötzlich wusste, dass er in den zurückliegenden Jahren mindestens ebenso sehr gelitten hatte wie er und dass sein Schicksal kein bisschen weniger beneidenswert gewesen war als sein eigenes. Nun aber hatte er seine Fassung zurückerlangt, und es würde Mogens nicht gelingen, die Mauer, die er rings um sich herum errichtet hatte, ein zweites Mal zu durchbrechen. Zumindest nicht jetzt, und nicht hier. »Ich nehme es dir nicht übel, Mogens«, fuhr Graves fort. »Wenn jemand Schuld hat, dann wohl ich. Ich hätte dich nicht in diesem Zustand allein lassen dürfen.«
»Das ist immer noch keine Antwort auf meine Frage«, sagte Mogens, obgleich er wusste, wie sinnlos es jetzt war. »Es ist dir nie darum gegangen, der Welt oder auch nur deinen Kollegen zu beweisen, dass die Pharaonen fünftausend Jahre vor Kolumbus hier waren, habe ich Recht? Du suchst etwas ganz anderes.«
Aber Graves hatte die Mauer wieder aufgebaut, und sie war höher und massiver denn je. Sein Blick war kalt. Und dennoch fügte Mogens - nicht nur wider besseres Wissen, sondern beinahe schon gegen seinen eigenen Willen - noch einmal hinzu: »Was hoffst du dort unten zu finden, Graves?«