Sein Gegenüber schüttelte nur den Kopf. Statt direkt zu antworten, griff er unter seine Jacke, kramte eine Zigarette und ein Streichholzbriefchen hervor und benutzte beides, um sein Gesicht wieder hinter einer grauen Wolke aus sich träge in der Luft ausbreitenden Schwaden zu verstecken. »Ich halte dir deinen momentanen Zustand zugute«, sagte er, »und werfe mir vor, dich wohl überfordert zu haben. Dort unten ist nichts, Mogens - nichts, was wir beide nicht schon gesehen hätten. Aber ist das etwa nicht genug?« Er nutzte einen weiteren Zug aus seiner Zigarette, um eine in ihrer Wirkung vermutlich genau berechnete Kunstpause einzulegen, und verzog die Lippen zu einem ganz leicht abfälligen Lächeln. »Was glaubst du denn, wonach ich suche?«, fragte er spöttisch. »Nach dem Stein der Weisen vielleicht oder dem heiligen Gral?«
Für den Bruchteil einer Sekunde blitzte eine bisher verschüttet gewesene Erinnerung in Mogens' Kopf auf. Toms Scheinwerferstrahl hatte das Tor erfasst, aber die beiden gewaltigen, mit unheimlichen Bildern verzierten schwarzen Flügel hatten weit offen gestanden, und dahinter... das Bild entglitt ihm, aber er hatte das unheimliche Gefühl, dass es das erst tat, nachdem er gesehen hatte, was hinter dem offen stehenden Tor zum Vorschein kam. Ein Teil von ihm, der eindeutig stärker war als sein bewusster Wille, wollte nicht, dass er es erkannte.
Er wechselte das Thema. »Was unternehmen wir jetzt wegen Miss Preussler?«, fragte er.
Graves paffte ungerührt weiter an seiner Zigarette, und die Schwaden vor seinem Gesicht waren jetzt so dicht, dass Mogens den Ausdruck darauf mehr erahnte, als er ihn wirklich sah. »Was willst du denn unternehmen, mein Freund?«, fuhr er spöttisch fort. »Möchtest du ein Gebet für sie sprechen? Nur zu.«
Es fiel Mogens nicht leicht, sich zu beherrschen, aber irgendwie brachte er das Kunststück doch fertig. Mit einer Ruhe, die ihn fast selbst überraschte, antwortete er: »Wir können die Sache nicht einfach so auf sich beruhen lassen. Immerhin ist ein Mensch ums Leben gekommen.«
»Will heißen?«, erkundigte sich Graves ungerührt.
»Wir müssen irgendwie darauf reagieren«, antwortete Mogens. »Hast du Sheriff Wilson schon verständigt?«
Der Ausdruck von Verblüffung auf Graves' Gesicht wirkte vollkommen echt. »Sheriff Wilson?«, wiederholte er verständnislos.
»Selbstverständlich«, sagte Mogens. »Die arme Frau ist tot, Graves! In einem solchen Fall verständigt man im Allgemeinen die Behörden, oder etwa nicht?«
»Das mag sein«, antwortete Graves. Seine Augen wurden schmal. »Und ich werde es selbstverständlich nachholen - morgen.«
»Morgen?«, wiederholte Mogens. »Was soll das heißen, morgen?«
»Sobald alles vorüber ist«, antwortete Graves. »Sobald wir...«
»Aber wir können nicht so lange warten!«, unterbrach ihn Mogens. »Wir hätten den Sheriff längst benachrichtigen müssen! Ich bin davon ausgegangen, dass Tom das noch in der vergangenen Nacht erledigt hat!«
Graves maß ihn etliche Sekunden lang mit einem Blick, den man nur noch als verächtlich bezeichnen konnte. »Allmählich beginne ich mir doch Sorgen um deine geistige Gesundheit zu machen, alter Junge«, sagte er dann. »Weißt du überhaupt, was du da redest?«
»Miss Preussler ist tot!«, antwortete Mogens. Er war vollkommen fassungslos.
Graves nickte, sagte aber trotzdem: »Das wissen wir noch gar nicht. Das Einzige, was wir wissen, ist, dass sie verschwunden ist. Ich will gerne einräumen, dass die Wahrscheinlichkeit, sie noch einmal lebend oder gar unversehrt wiederzusehen, nicht besonders hoch ist. Vielleicht sollten wir der bedauernswerten Miss Preussler sogar wünschen, nicht mehr am Leben zu sein. Dennoch bleibt es bisher nur eine reine Vermutung. Eine bloße Annahme, auf die hin allein ich unmöglich den Erfolg jahrelanger Arbeit aufs Spiel setzen kann!« Mogens wollte protestieren, aber Graves machte eine wütende Kopfbewegung und stieß eine graue Rauchwolke in seine Richtung; ein verärgerter Drache, der ein drohendes Knurren von sich gab. »Hast du auch nur eine Vorstellung davon, was passieren würde, wenn wir jetzt zu Wilson gehen? In spätestens einer Stunde würde es hier von Polizisten nur so wimmeln, und längstens eine Stunde später von Reportern, Schaulustigen und Gaffern! Von unseren geschätzten Kollegen von nebenan gar nicht zu reden! Sie würden alles durchwühlen, auf den Kopf stellen und durcheinander bringen. Ich lasse nicht die Arbeit eines Jahrzehnts kaputtmachen, nur...«
»... weil ein Mensch ums Leben gekommen ist?«, fiel ihm Mogens ins Wort.
»Weil du nicht einen einzigen Tag abwarten konntest!«, schnappte Graves wütend. »Was soll das, Mogens? Ich verlange nichts Ungesetzliches von dir! Nicht einmal etwas Unmoralisches! Ein einziger Tag, das ist alles, worum ich dich bitte! Morgen früh kannst du meinetwegen nach San Francisco gehen und dort mit der größten Zeitung sprechen. Posaune es ruhig heraus, ich habe nichts dagegen. Nimm von mir aus den gesamten Ruhm für dich in Anspruch, selbst das ist mir egal! Aber wenn heute irgendjemand erfährt, was wir dort unten gefunden haben, dann war alles umsonst, und das lasse ich nicht zu!«
»Du hast es immer noch nicht verstanden«, murmelte Mogens erschüttert. »Lässt dich der Tod eines Menschen wirklich so kalt?«
»Nein!«, antwortete Graves heftig. »Du hast Recht. Aber es war nicht unsere Schuld. Weder deine noch meine. Es war ein furchtbares Unglück, eine Verkettung schrecklicher Zufälle, die niemals hätten passieren dürfen. Aber wenn wir jetzt alles wegwerfen, wofür ich so lange gearbeitet habe - wofür wir beide so lange gearbeitet und wofür wir beide so viel bezahlt haben, Mogens! -, dann war ihr Tod nicht nur furchtbar, sondern auch sinnlos. Willst du das?«
Mogens fragte sich, warum er sich nicht einfach umdrehte und ging. Es war vollkommen zwecklos, dieses Gespräch fortzusetzen. Graves verstand nicht, wovon er sprach, und er verstand nicht, was Graves meinte. Es war, als hätte sie plötzlich eine babylonische Sprachverwirrung befallen, sodass sie zwar noch die gleiche Sprache benutzten, die Worte aber für den jeweils anderen keinen Sinn mehr ergaben. Es war noch nicht lange her, da hatte er sich ernsthaft gefragt, ob er vielleicht dabei war, den Verstand zu verlieren. Jetzt fragte er sich dasselbe, was Graves betraf. Der Mann war verrückt. Vielleicht sogar gefährlich verrückt.
»Es tut mir Leid«, sagte er leise, aber mit fester, entschlossener Stimme, »aber ich werde nicht noch einmal dort hinuntergehen. Weder heute, noch morgen, noch sonst irgendwann. Ich packe jetzt meine Sachen und bitte Tom, mich in die Stadt zu fahren. Ich werde Sheriff Wilson von dem unterrichten, was hier geschehen ist.«
»Ich fürchte, Tom wird keine Zeit haben«, sagte Graves kalt.
»Dann muss ich eben zu Fuß gehen.«
Graves lachte gehässig. »In deinem Zustand? Mach dich nicht lächerlich!«
Mogens zuckte scheinbar unbeteiligt mit den Schultern. »Vielleicht hast du ja Glück, und ich breche unterwegs vor Erschöpfung zusammen«, sagte er, aber er lächelte nicht bei diesen Worten, und sein Blick ließ den der schmalen Augen hinter den träge in der Luft schwebenden, grauen Rauchschwaden keinen Moment lang los. »Aber ich werde gehen, jetzt. Das hätte ich schon vor langer Zeit tun sollen. Vielleicht wäre die arme Miss Preussler dann noch am Leben.«
»Vielleicht hättest du gar nicht erst hierher kommen sollen«, fauchte Graves.
»Du warst es, der mich geholt hat«, erinnerte Mogens.
Graves verzog verächtlich die Lippen. »Selbst mir unterläuft dann und wann ein Fehler«, sagte er.
Mogens verzichtete auf eine Antwort. Das Gespräch konnte nur eskalieren, ganz gleich, was er sagte oder tat - und das in jeder Beziehung. Mogens hatte sich, solange er Graves kannte, niemals Gedanken darüber gemacht - wozu auch? -, aber nun fiel ihm mit einem Male auf, wie überlegen ihm Jonathan Graves auch in rein körperlicher Hinsicht war: ein gutes Stück größer als er, deutlich breitschultriger und um mindestens dreißig Pfund schwerer, hatte Graves schon während seiner Zeit als Student mehr als nur ein Angebot bekommen, in der Football-Mannschaft der Universität mitzuspielen - etwas, was seiner schulischen Laufbahn ohne Zweifel gut bekommen wäre. Graves, der sich nicht im mindesten für jedwede Art sportlicher Aktivität interessierte, hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, darauf zu antworten, und die Jahre, die seither vergangen waren, hatten seiner Form sichtlich wenig gut getan. Dennoch war er noch immer deutlich kräftiger als Mogens, und selbst wenn es anders gewesen wäre: Mit einem Male spürte er die Gewaltbereitschaft, die Graves ausstrahlte wie einen üblen Geruch. Das war neu, selbst für Graves, und es erschreckte Mogens. Er fragte sich ganz ernsthaft, ob Graves ihn nicht möglicherweise sogar mit Gewalt zurückhalten würde, wenn er darauf bestand, zu gehen, schrak aber so sehr vor seinem eigenen Gedanken zurück, dass er ihn hastig verscheuchte.