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»Um was zu tun?«, erkundigte sich Graves. »Sheriff Wilson zu erzählen, was mit der armen Miss Hyams und mit Miss Preussler passiert ist?« Er schüttelte ebenfalls den Kopf und sah Mogens gleichermaßen lauernd wie auch irgendwie herausfordernd an. »Bitte bedenke, mein Freund: Dein Wort stünde gegen das meine und das von Tom. Sheriff Wilson kennt mich seit einer geraumen Weile. Ich will nicht behaupten, dass er mir gegenüber freundschaftliche Gefühle hegt oder mich auch nur schätzt. Aber du bist vollkommen fremd für ihn. Wem würde er wohl glauben?«

»Ich halte Sheriff Wilson für einen sehr klugen Mann«, sagte Mogens ungerührt. Er war enttäuscht, nicht einmal so sehr von Graves - er hatte erwartet, dass dieser sich am Ende aufs Drohen verlegen würde -, sondern eigentlich mehr von sich selbst, in seiner bodenlosen Naivität tatsächlich geglaubt zu haben, Graves würde doch noch so etwas wie menschliche Züge entwickeln. »Er wird die Wahrheit herausfinden, daran zweifle ich nicht.«

»Mogens - bitte!«, sagte Graves. »Willst du denn wirklich alles wegwerfen?«

»Dort unten ist nichts, was diesen Preis wert wäre«, antwortete Mogens.

»Und diese Worte aus dem Munde eines Mannes wie dir?«, murmelte Graves kopfschüttelnd. »Du bist ein Mann der Wissenschaft, Mogens, genau wie ich! Hast du denn wirklich all unsere Träume vergessen? All die Geschichten, denen wir damals an der Universität gelauscht haben, all das, was wir selbst jemals erreichen wollten?«

»Nein«, antwortete Mogens. »Aber ich habe noch viel weniger vergessen, was du selbst mir erzählt hast, Jonathan. Oder was Tom mir erzählt hat. Und ich habe schon gar nicht vergessen, was ich mit eigenen Augen gesehen habe. Was muss denn noch passieren, bis du begreifst, dass wir hier etwas geweckt haben, dem wir nicht gewachsen sind?«

Graves sog erneut an seiner Zigarette, und Mogens konnte regelrecht sehen, wie sich die Gedanken hinter seiner Stirn überschlugen. »Also gut«, seufzte er schließlich. »Wahrscheinlich spielt es jetzt sowieso keine Rolle mehr. Früher oder später hättest du es ohnehin erfahren. Spätestens heute Nacht.«

»Was?«, fragte Mogens.

»Du hast Recht«, sagte Graves. »Dort unten ist tatsächlich noch mehr als nur ein altes Pharaonengrab. Viel mehr, als du dir auch nur vorstellen kannst.«

Mogens konnte sich eine ganze Menge vorstellen, aber er spürte auch, wie zumindest ein Teil von ihm fast begierig nach dem Köder schnappte, den Graves ihm hinwarf. Der Versuch war so durchsichtig, dass er schon fast lächerlich wirkte; der Köder war nicht besonders originell, und auch nicht besonders geschickt gewählt. Er konnte die gefährlichen Widerhaken darin deutlich sehen. Und dennoch tat er seine Wirkung. Letztendlich war er mit einem Gutteil seiner Seele immer genau das gewesen, als was Graves ihn gerade bezeichnet hatte: ein Mann der Wissenschaft. Die langen Jahre in seinem selbst gewählten Exil hatten ihn fast vergessen lassen, warum er diesen Beruf gewählt hatte und keinen anderen. Die zahllosen Nächte, in denen er schweißgebadet und von Albträumen geplagt aufgewacht war, und die dafür umso tristeren, sich in einer endlosen Folge nicht enden wollender Stunden aneinanderreihenden Tage in seinem fensterlosen Verlies im Keller der Universität hatten ihn glauben machen, dass das Feuer der Wissenschaft in ihm erloschen war. Aber das stimmte nicht. Ein Teil von ihm hatte niemals aufgehört, diese eine, ultimative Frage zu stellen, auf die letzten Endes jeder Forscherdrang hinausläuft: Warum?

»Nein«, sagte er.

»Nein?«, wiederholte Graves ungläubig. »Aber du weißt doch noch gar nicht, was ich gefunden habe!«

»Und ich will es auch gar nicht wissen«, antwortete Mogens. »Du hast Recht, Jonathan - ich bin ein Mann der Wissenschaft, genau wie du. Aber es gibt einen Unterschied zwischen uns. Ich glaube, dass es Dinge gibt, die wir nicht wissen sollten.«

»Wenn alle so dächten wie du«, antwortete Graves verächtlich, »dann säßen wir heute noch auf Bäumen und würden uns gegenseitig mit Stöcken bewerfen!«

»Ja«, sagte Mogens ruhig, »das ist möglich. Aber Miss Preussler wäre auch vielleicht noch am Leben.«

»Und Janice auch«, sagte Graves.

Das Schlimmste war vielleicht, dass diese Worte ebenso durchsichtig waren wie die zuvor. Mogens erkannte die verletzende Absicht dahinter so deutlich, als hätte Graves ihm seinen Angriff zuvor angekündigt, aber das machte sie kein bisschen weniger schlimm. Er spürte, wie eine Woge aus purem Zorn in ihm emporstieg, und für einen Moment wollte er nichts mehr, als sich einfach auf Graves zu stürzen und ihm die Fäuste ins Gesicht zu schlagen.

Natürlich tat er das nicht. Schon, weil er ebenso deutlich spürte, dass es ganz genau das war, was Graves wollte. Statt ihm noch weiter zuzuhören und sich am Ende möglicherweise doch noch zu einer Dummheit hinreißen zu lassen, drehte er sich abermals herum, streckte wortlos die Hand nach der Türklinke aus - und im selben Moment wurde die Tür von draußen aufgestoßen, und Tom stolperte herein. Er war vollkommen aufgelöst.

»Miss Preussler!«, stammelte er. »Sheriff Wilson!«

»Was ist los?«, raunzte ihn Graves an. Er machte eine herrische Handbewegung. »Tom, reiß dich zusammen! Was ist mit Miss Preussler und dem Sheriff?«

Tom musste zwei- oder dreimal einatmen, bevor er überhaupt im Stande war, weiterzusprechen. »Sheriff Wilson ist gekommen«, stieß er dann hervor. »Er hat Miss Preussler gefunden. Sie lebt!«

37.

Noch vor weniger als einer Viertelstunde war Mogens nicht sicher gewesen, ob seine Kraft ausreichte, den schlammigen Platz überhaupt noch einmal zu überqueren. Jetzt, als er dicht hinter Graves und Tom her stürmte, spürte er die Anstrengung kaum. Er fiel ein paar Schritte zurück, erreichte die schäbige Hütte, die Miss Preussler von Doktor Hyams übernommen hatte, aber nur wenige Sekunden nach den beiden anderen, und obwohl sein Herz jagte und seine Lungen bei jedem Atemzug zu zerreißen drohten, hielt er nicht einmal im Laufen inne, sondern schlug nur einen hastigen Bogen um den Wagen des Sheriffs, der neben der offenen Tür stand, und überwand die drei hölzernen Stufen davor mit einem einzigen Satz.

Um ein Haar wäre er gegen Wilson geprallt, der sich unmittelbar hinter der Tür aufgebaut hatte und sie mit seinen breiten Schultern nahezu vollkommen blockierte. Es war auch Wilson, der den Zusammenstoß verhinderte, denn er trat im letzten Moment blitzschnell zur Seite und ließ ihn passieren; aber Mogens entging keineswegs der rasche, ebenso abschätzige wie misstrauische Blick, mit dem der Sheriff ihn maß.

Im Augenblick interessierte ihn das aber nicht im Geringsten. Mit zwei weiteren, weit ausgreifenden Schritten war er fast vollends durch den Raum und prallte dann mit einem keuchenden Laut zurück, als er die Gestalt sah, die auf dem schmalen Feldbett lag. Während des gesamten Weges hierher hatte er keinen einzigen klaren Gedanken fassen können - und wie auch? -, aber seine Fantasie war nicht müde geworden, ihn mit den schrecklichsten Visionen zu quälen. Schließlich hatte er mit eigenen Augen gesehen, was ihr widerfahren war.

Nichts von all den Schreckensbildnissen, die er erwartet hatte, traf zu.

Die Wirklichkeit war tausend Mal schlimmer.

Dabei war sie nicht einmal verletzt; jedenfalls nicht, soweit Mogens das erkennen konnte. Miss Preussler lag lang ausgestreckt auf dem einfachen Feldbett, das sie mit ihrer gewaltigen Leibesfülle zumindest in der Breite eindeutig überforderte, ihre Haare waren zerzaust und schmutzig, und auf ihrem Gesicht, den Armen und den nackten Schultern prangten ein paar frische, offensichtlich gerade erst verschorfte Kratzer und Schrammen. Alles unterhalb ihrer Achseln bis hinab zu den Waden war in eine graue Wolldecke gewickelt, die vermutlich aus Wilsons Automobil stammte. Auch ihre nackten Füße waren zerschrammt und starrten vor Schmutz. Ihre Augen standen weit offen, und sie war ganz offensichtlich auch bei Bewusstsein, aber Mogens wünschte sich fast, es wäre nicht so gewesen. Niemals zuvor hatte er ins Antlitz eines Menschen geblickt, in dessen Züge sich ein Ausdruck solch abgrundtiefen Grauens gegraben hatte.