»Was... was ist mit ihr passiert?«, flüsterte er.
Tom, der auf der anderen Seite des Bettes auf die Knie gesunken war und Miss Preusslers linke Hand hielt, sah nur kurz und mit einem Ausdruck zu Mogens auf, der eher wütend als besorgt oder gar mitleidig wirkte, aber Graves sagte: »Sheriff Wilson wird uns das sicher gleich erklären.« Er hatte am Fußende des Bettes Aufstellung genommen und sah etwa so teilnahmsvoll auf Miss Preussler hinab wie ein Angler, der einen besonders mageren Fisch aus dem Wasser gezogen hatte und sich überlegte, ob es sich überhaupt lohnte, ihn auszunehmen, oder ob er ihn besser einfach hier liegen lassen sollte.
»Ich fürchte, das kann ich nicht«, antwortete Wilson. Nicht nur Graves drehte sich langsam zu ihm herum und zog fragend die linke Augenbraue hoch; auch Mogens wandte überrascht den Kopf und sah den Sheriff mit einem Ausdruck leiser Verwirrung an.
»Was soll das heißen?«, fragte Graves. »Sie können es nicht?«
Wilson hob mit einer Bewegung die Schulter, von der Mogens nicht sagen konnte, ob sie hilflos wirkte oder von mühsam unterdrücktem Zorn erfüllt. Bevor er antwortete, trat auch er an das Bett heran und blickte lange Sekunden nachdenklich und mit gerunzelter Stirn auf Miss Preussler hinab. »Ich kann Ihnen nicht viel sagen, fürchte ich«, wiederholte er. »Ich hatte im Gegenteil gehofft, dass Sie mir einige Fragen beantworten könnten.«
»Wir?«, wiederholte Graves. Seine linke Hand pulsierte unter dem schwarzen Leder des Handschuhs ganz leicht. »Aber wie könnten wir?«
Wilson riss sich vom Anblick der halb bewusstlosen Frau los und wandte sich mit einer betont langsamen Bewegung ganz zu Graves um. »Nun, zum einen«, antwortete er, »weil diese Frau ganz offensichtlich zu Ihnen gehört. Und zum anderen, weil ich sie ganz in der Nähe gefunden habe.«
»Wo?«, entfuhr es Mogens.
Die Frage - vielleicht aber auch der ganz eindeutig schuldbewusst klingende Ton, in dem er sie hervorgestoßen hatte - erregte eindeutig Graves' Missfallen, denn er spießte ihn mit Blicken regelrecht auf. Wilson wandte langsam den Kopf in seine Richtung und sah auch ihn etliche Sekunden lang nachdenklich und durchdringend an, bevor er antwortete.
»Auf dem alten Friedhof. Gleich vorne, wo er an die Straße stößt. Sie wissen, wo das ist?«
Mogens begann sich unter seinem Blick zunehmend unwohler zu fühlen. Als er Wilson das erste Mal begegnet war, hatte er geglaubt, es mit einem vermutlich warmherzigen und sehr aufrichtigen, aber nicht allzu hellen Landpolizisten zu tun zu haben, der sein Bestes tat, um seiner Aufgabe gerecht zu werden, aber mehr eben auch nicht. Allein der Blick jedoch, mit dem ihn Wilson jetzt maß, lehrte ihn eines Besseren. Wilson war weder ein Dummkopf, noch würde er sich von Graves' überheblichem Benehmen und ihren akademischen Titeln beeindrucken lassen. Er konnte natürlich nicht wissen, was sich hier zugetragen hatte, aber er spürte offensichtlich, dass sie etwas damit zu tun haben mussten.
»Sie haben sie so gefunden?«, vergewisserte sich Graves. »Ich meine...?«
»Unbekleidet, wenn es das ist, was Sie wissen wollten, ja«, sagte Wilson ungerührt und wandte Graves jetzt wieder seine volle Aufmerksamkeit zu. »Und in einem völlig hysterischen Zustand. Ich habe eine ganze Weile gebraucht, um überhaupt ein vernünftiges Wort aus ihr herauszubekommen. Wenn ich nicht gewusst hätte, dass sie zu Ihnen gehört, hätte ich sie erst einmal in die Stadt mitgenommen, zum Arzt. Was tut sie überhaupt hier?«
»Miss Preussler ist erst seit wenigen Tagen bei uns«, antwortete Graves. Er deutete auf Mogens. »Genau genommen gehört sie zu Professor VanAndt.«
Mogens war sicher, dass Graves seinen akademischen Grad ganz bewusst erwähnt hatte, aber er war ebenso sicher, dass Wilson dieser Umstand so wenig entgangen war wie ihm, und dass er sein Misstrauen vermutlich eher noch schürte, statt es zu besänftigen. Wilson wandte noch einmal den Kopf in seine Richtung und maß ihn mit einem langen, taxierenden Blick von Kopf bis Fuß, dann hob er - obwohl er den Hut in den Händen trug, die Linke an die Stirn und tippte mit Zeige- und Mittelfinger dagegen, als befände sich seine Krempe noch dort oben. »Ach ja, Professor«, sagte er. »Ihre... Haushälterin. So sagten Sie doch, nicht wahr?«
»Das ist eine etwas kompliziertere Geschichte«, sagte Graves rasch, bevor Mogens antworten konnte. »Und sie hat auch ganz sicher nichts mit dem zu tun, was Miss Preussler zugestoßen ist.« Er schüttelte ein paar Mal hintereinander und übertrieben heftig den Kopf, bevor er sich leicht vorbeugte und Miss Preussler mit einem langen, gespielt verständnislosen Blick maß. »Sie hatte keine Kleider an, sagen Sie?«, vergewisserte er sich. »Hat man sie...?«
»Das war auch mein erster Gedanke«, sagte Wilson, als Graves nicht weitersprach. Er schüttelte den Kopf. »Ich habe sie danach gefragt, aber sie sagt, nein. Jedenfalls«, schränkte er in etwas leiserem Tonfall und mit einem neuerlichen, sonderbaren Blick in Mogens' Richtung ein, »soweit ich sie verstehen konnte.«
»Aber warum haben Sie sie nicht in die Stadt gebracht?«, fragte Graves. »Die Frau gehört zu einem Arzt!«
»Selbstverständlich«, sagte Wilson. »Aber es war ihr ausdrücklicher Wunsch, hierher gebracht zu werden. Ich habe versucht, sie vom Gegenteil zu überzeugen, aber es ist mir nicht gelungen. Ich kann niemanden festnehmen, nur weil er oder sie vielleicht Opfer eines Verbrechens geworden ist. Die Frau war nicht verletzt, und trotz ihres hysterischen Benehmens war sie ganz offensichtlich zugleich auch genug Herrin ihres Verstandes, um ihren Willen klar zu formulieren. Sie wollte hierher. Zu jemandem namens Mogens.«
»Das bin ich«, antwortete Mogens rasch.
»Mogens...?«, wiederholte Wilson. »Sagten Sie nicht, Ihr Name wäre -«
»Mogens VanAndt«, unterbrach ihn Mogens. »Ich bin gebürtiger Flame. Meine Eltern stammen aus Brüssel.«
»Das liegt in Europa, nicht wahr?«, fragte Wilson.
Mogens zollte ihm in Gedanken noch ein wenig mehr Respekt, als er es ohnehin bisher schon getan hatte. Selbst die Studenten, die er in den letzten neun Jahren unterrichtet hatte, wussten nicht alle, wo Brüssel lag. Bei einigen von ihnen argwöhnte er sogar, dass sie nicht einmal wussten, wo Europa war. Er nickte. »Ja. Aber ich bin hier aufgewachsen. Und seit meinem vierten Lebensjahr amerikanischer Staatsbürger, bevor Sie fragen.«
Der gutmütige Ausdruck, der trotz allem noch immer irgendwo in Wilsons Augen gewesen war, erlosch, und Mogens begriff, dass er soeben einen schweren Fehler begangen hatte. Er hätte jetzt selbst nicht mehr sagen können, warum ihm dieser Blödsinn überhaupt entschlüpft war, doch ganz offensichtlich fühlte sich Wilson von ihm angegriffen, und damit augenscheinlich in seinem Misstrauen bestätigt.
»Wie kommen Sie darauf, dass Miss Preussler Opfer eines Verbrechens geworden ist?«, fragte Graves spröde.
Wilson maß ihn mit einem fast schon verächtlichen Blick und drehte sich demonstrativ ganz zu Mogens um. »Miss... wie war ihr Name noch gleich?«
»Preussler«, antwortete Mogens. »Betty Preussler. Wenn Sie die Adresse brauchen, kann ich sie Ihnen geben.«
»Das wird nicht nötig sein«, antwortete Wilson. »Jedenfalls im Augenblick nicht. Ich nehme an, dass Sie noch einige Zeit hier bleiben werden - nur wenn ich doch noch eine Frage haben sollte.«
»Und welche Frage könnte das sein?«, fragte Graves. Warum auch immer, er schien es darauf angelegt zu haben, Wilsons Misstrauen zur Gewissheit zu machen.
»Zum Beispiel die, wann Sie Miss Preussler das letzte Mal gesehen haben«, antwortete Wilson kühl, »und ob es zu ihren Gewohnheiten gehört, unbekleidet auf Friedhöfen herumzulaufen.«