»Ja«, sagte Miss Preussler. Sie schluckte ein paar Mal schwer, und ihr Blick schien nun geradewegs durch ihn hindurch zu gehen, an einen Ort noch jenseits der Dunkelheit. »Es war so schrecklich. So... so entwürdigend. Sie haben mich überall beschnüffelt, ich meine... wirklich überall. Ich... ich wollte sterben vor Scham, aber ich konnte nichts tun.«
»Schon gut«, sagte Mogens sanft. »Es waren nur Tiere, Miss Preussler. Nur ein paar hirnlose Ungeheuer. Es muss Ihnen nicht peinlich sein.«
»Und dann haben sie Sie einfach gehen lassen?«, fragte Graves.
»Nein«, antwortete Miss Preussler. »Irgendwann sind mir die Sinne geschwunden. Ich bin oben auf dem Friedhof wieder wach geworden. Die Kreaturen waren nicht mehr da.«
»Und dann hat Sheriff Wilson Sie gefunden«, vermutete Mogens.
Miss Preussler presste die Lippen aufeinander. Mogens konnte nicht anders, als die Kraft dieser Frau zu bewundern, aber er sah dennoch plötzlich Tränen in ihren Augen schimmern. »Es war so... so... entwürdigend«, flüsterte sie mit bebender Stimme. »Ich schäme mich so.«
»Das brauchen Sie nicht«, sagte Mogens sanft. »Es ist alles vorbei. Ruhen Sie sich ein wenig aus, und später wird Tom uns dann mit dem Wagen in die Stadt fahren. Mit ein wenig Glück sitzen wir heute Abend schon in einem Zug, der uns nach Hause bringt.«
»Aber das geht nicht, Professor«, sagte Miss Preussler.
»Was?«, fragte Mogens.
»Wir können nicht einfach davonlaufen«, erklärte Miss Preussler. »Es geht nicht nur um mich, Professor. Ich habe dort unten... noch etwas gesehen.«
»Was?«, fragte Mogens. Sein Herz klopfte.
»Ich war nicht die Einzige dort unten«, antwortete Miss Preussler. »Es gibt dort noch mehr Frauen. Und sie sind am Leben.«
38.
Vor einer guten Stunde war die Sonne untergegangen, und seither hatte Mogens den verzierten Deckel seiner Taschenuhr mindestens ein Dutzend Mal auf und wieder zugeklappt, um einen Blick auf die verschnörkelten Zeiger darunter zu werfen. Obwohl er ziemlich sicher war, dass in mehr oder weniger gleichmäßigen Abständen getan zu haben, schien doch jedes Mal deutlich weniger Zeit verstrichen zu sein, seit er zuvor auf die Uhr geblickt hatte. Als er den Deckel jetzt wieder aufklappte, um im Licht der einzelnen, schon fast heruntergebrannten Kerze auf Graves' Schreibtisch einen Blick auf die Stellung der Zeiger zu werfen, kam es ihm so vor, als hätten sie sich nicht im Mindesten von der Stelle gerührt.
»Professor?«
Mogens widerstand der Versuchung, Graves, der auf der anderen Seite des unordentlichen Schreibtisches saß, einen zornigen Blick zuzuwerfen - er hatte ohnehin seine Zweifel, ob er eine Chance gehabt hätte, die dichten, grauen Schwaden aus Zigarettenrauch zu durchdringen, die Graves mittlerweile wie eine Mauer zwischen ihnen errichtet hatte. Graves rauchte ohnehin sehr viel - selbst vom Standpunkt eines eher toleranten Menschen aus betrachtet, der das Rauchen zwar für eine überaus unangenehme Angewohnheit hielt, darüber hinaus aber der Meinung war, dass jeder für sich das Recht hatte, zu entscheiden, auf welche Art und Weise er sich umzubringen gedachte -, doch seit sie hier hereingekommen waren, paffte er praktisch ununterbrochen. Mogens war sich bis jetzt nicht ganz schlüssig, ob das nun ein Anzeichen von Nervosität war oder ob Graves vielleicht glaubte, in spätestens einigen Stunden ohnehin nie wieder rauchen zu können, und seinem Laster auf diese Weise ein allerletztes Mal frönte; wobei das eine das andere nicht unbedingt ausschloss.
Mit einer schon fast übertrieben bedächtigen Bewegung klappte er die Uhr zu, steckte sie sorgsam in die Westentasche und beantwortete Graves' Frage ganz bewusst erst, nachdem er noch einige weitere Sekunden hatte verstreichen lassen. »Selbstverständlich bin ich nervös«, sagte er. »Du etwa nicht?«
Graves wiegte den Kopf; zumindest vermutete Mogens, dass die Bewegung, die er in den dichten Rauchschwaden wahrzunehmen glaubte, diese Bedeutung hatte. »Ich bin nicht ganz sicher«, antwortete er. »Ich meine: Ich sollte es sein, nicht wahr? Aber ich fühle mich... sonderbar.«
»Sonderbar?« Mogens zog fragend die Augenbrauen hoch. »Ich an deiner Stelle hätte Angst. Viel mehr als ich an meiner Stelle.«
Graves lachte leise. »Kannst du mir das erklären?«
»Ich nehme doch an, dass du besser weißt als ich, was uns dort unten erwartet«, sagte er. »Zumindest hoffe ich es.«
»Ich muss dich enttäuschen, fürchte ich«, antwortete Graves. »Etwas Großes. Dessen bin ich mir sicher. Aber sehr viel mehr weiß ich auch nicht. Näher als jetzt bin ich dem Geheimnis in all den Jahren nie gekommen. Und um deine Frage zu beantworten: Selbstverständlich habe ich Angst. Ich wäre kein Mensch, wenn ich keine Angst hätte.«
Was den Grad von Graves' Menschlichkeit anging, dachte Mogens, so wäre das sicher ein Thema für eine lange und hitzige Diskussion. Aber nicht jetzt.
Er ertappte sich dabei, schon wieder nach der Uhr in seiner Westentasche greifen zu wollen und zog die Hand hastig wieder zurück, doch die Bewegung war Graves nicht entgangen. »Es sind noch über drei Stunden bis Mitternacht, Mogens«, sagte er. »Warum gehst du nicht in deine Unterkunft und versuchst noch ein wenig Schlaf zu finden? Tom wird dich rechtzeitig wecken.«
»Schlaf?«, wiederholte Mogens. »Könntest du denn schlafen, an meiner Stelle?«
»Ich kann ja nicht einmal an meiner Stelle schlafen«, sagte Graves amüsiert, während er einen weiteren tiefen Zug aus seiner Zigarette nahm. Inmitten der grauen Schwaden leuchtete ein winziges rotes Auge auf und erlosch wieder. »Steht dir der Sinn nach einer Partie Schach?«
»Schach?«, vergewisserte sich Mogens in fast ungläubigem Ton. »Du denkst ernsthaft daran, jetzt Schach zu spielen?«
»Warum nicht?«, gab Graves zurück. »Ich kenne Leute, die sich damit vergnügen, alle paar Sekunden auf die Uhr zu sehen. Da halte ich Schach für eine weitaus sinnvollere Methode, die Zeit zu überbrücken. Es ist ein äußerst beruhigendes Spiel, und es schärft den Blick für das Wesentliche. Beides könnte sich als hilfreich erweisen.«
Er wartete Mogens' Antwort erst gar nicht ab, sondern stand auf, ging zu einer kleinen Kommode und kam nach wenigen Augenblicken mit einem in Leder gebundenen Etui zurück, aus dem er ein kleines, aber äußerst kunstvoll geschnitztes Schachspiel nahm, dessen Figuren - obgleich keine davon größer war als der kleine Finger eines Neugeborenen - jede für sich ein kleines Meisterwerk darstellte. Allerdings hatten sie auch einen kleinen Schönheitsfehler.
»Die Figuren«, sagte Mogens.
»Was soll damit sein?«, fragte Graves, während er bereits - mit beiden Türmen beginnend und sich rasch nach innen vorarbeitend - die Figuren auf seiner Seite aufstellte.
»Sie sind weiß«, sagte Mogens.
»Das kommt daher, dass sie aus Elfenbein geschnitzt sind«, sagte Graves. Er klang ein bisschen belustigt.
»Aber sie sind alle weiß!«, protestierte Mogens. »Auf beiden Seiten!«
»Elfenbein ist nun einmal weiß«, erklärte Graves amüsiert.
»Und wie soll man damit spielen, wenn man sie nicht auseinander halten kann?«, fragte Mogens.
Graves war mittlerweile damit fertig, seine Figuren aufzustellen, beugte sich vor und tat das Gleiche mit denen auf seiner Seite. Mogens beobachtete mit einer Mischung aus Faszination und einem leisen Ekelgefühl, wie sich seine Finger dabei bewegten. Es war ihm auch jetzt nicht möglich, zu sagen, was an dieser Art der Bewegung so falsch und abstoßend war, aber es blieb dabei: Graves' Hände bewegten sich auf eine Art, wie es die Hände eines Menschen einfach nicht tun sollten. Mit solchen Fingern, dachte er, müsste Graves eigentlich einen hervorragenden Falschspieler abgeben.