»Du meinst, es wäre schwierig, Freund und Feind auseinander zu halten, mit diesen Figuren?«, erkundigte sich Graves. »Wie im richtigen Leben?« Er ließ sich in seinen Stuhl zurückfallen, nachdem er die letzte Figur aufgestellt hatte. »Das ist ein ganz besonderes Schachspiel, Mogens. Es ist sehr alt und sehr wertvoll, aber das ist nicht der Grund, aus dem ich es nur hervorhole, um mit ganz besonderen Menschen zu spielen.«
»Sondern?«, erkundigte sich Mogens.
»Es gibt durchaus Unterschiede«, sagte Graves, »man muss nur ganz genau hinsehen. Und man muss sich die Stellung seiner eigenen Figuren gut genug einprägen. Wie gesagt: wie im richtigen Leben.« Er machte eine wedelnde Handbewegung. »Du fängst an, Mogens. Du hast Weiß.«
Im allerersten Moment überlegte sich Mogens ernsthaft, ob er sich wirklich auf dieses alberne Kräftemessen einlassen sollte oder ob es nicht klüger wäre, einfach aufzustehen und zu gehen. Ein Teil von ihm schreckte davor zurück, sich diese Blöße zu geben, aber ein anderer - weitaus größerer - war viel zu vernünftig, um sich auf dieses Niveau herabzulassen. Dennoch beugte er sich auf dem Stuhl vor und besah sich die winzigen Figuren genauer. Graves hatte Recht: Es gab winzige Unterschiede - auch wenn sie nach Mogens' Dafürhalten längst nicht ausreichten, um die Figuren noch identifizieren zu können, wenn sie ihre geordnete Schlachtformation erst einmal aufgegeben hatten und sich die gegnerischen Reihen zu durchdringen begannen. Aber was hatte er schließlich zu verlieren außer ein wenig Zeit, die ihm ohnehin zur Qual wurde, und einem bedeutungslosem Spiel?
Er eröffnete klassisch, indem er den Königsbauern zwei Felder nach vorne zog, und Graves machte ein abfälliges Gesicht und reagierte mit der ebenso klassischen Entgegnung darauf. Fast zu seiner eigenen Überraschung ertappte sich Mogens schon nach wenigen Zügen dabei, sich nicht nur fast vollständig auf die Partie zu konzentrieren, sondern auch den schon beinahe verbissenen Willen zu verspüren, sie auf gar keinen Fall zu verlieren. Früher, an der Universität, hatten Graves und er oft Schach miteinander gespielt, wenn auch auf einem normalen Brett mit Figuren unterschiedlicher Farbe, und neun von zehn Partien hatte er, Mogens, gewonnen. Aber eben nicht alle, und die wenigen Niederlagen, die Graves ihm beigebracht hatte, waren ausnahmslos vernichtend gewesen, und fast ausnahmslos sehr schnell gekommen. Graves gehörte zu jenen nahezu unberechenbaren Spielern, die im Grunde nicht besonders gut waren, und schon gar nicht kreativ, dafür aber manchmal zu vollkommen unsinnigen Reaktionen neigten, mit denen sie ihre Gegner aus dem Konzept brachten oder einfach überrumpelten. Nichts anderes, sinnierte Mogens, hatte Graves auch getan, um ihn hierher zu bringen. Er hatte ihn schlichtweg überrumpelt. Aber das würde ihm nie wieder gelingen.
Er erlebte eine Überraschung; allerdings keine angenehme. Graves hatte in den letzten Jahren offensichtlich eine Menge dazugelernt. Er spielte noch immer nicht wirklich meisterhaft, trotzdem aber sehr viel besser, als Mogens es in Erinnerung hatte und erwartete, und es wurde erwartungsgemäß schlimmer, als ihre Figuren sich nahe kamen. Die Aufgabe, sich die Stellung aller seiner sechzehn Figuren einzuprägen, nahm einen großen Teil seiner geistigen Kapazität in Anspruch, und er war ihr trotz aller Mühe nicht vollends gewachsen. Zwei- oder dreimal schüttelte Graves nur ebenso stumm wie spöttisch den Kopf, als er nach einer Figur greifen wollte, um ihn darauf hinzuweisen, dass es nicht seine eigene war, und er verlor einen Springer und drei Bauern, weil er genau den umgekehrten Fehler machte. Dennoch trieb er Graves' Figuren langsam, aber unerbittlich vor sich her. Nach kaum mehr als zwanzig oder fünfundzwanzig Zügen gab es am Ausgang der Partie eigentlich keinen Zweifel mehr. Er schlug Graves ein Remis vor, das dieser jedoch ablehnte.
»Man sollte niemals aufgeben, bevor das Spiel nicht wirklich zu Ende ist«, sagte er. »Diese Maxime habe ich mir schon vor langer Zeit zu eigen gemacht. Ohne sie wäre ich vermutlich nicht mehr am Leben.«
Mogens sah nicht einmal von Schachbrett hoch. Er spürte, dass Graves das nicht nur gesagt hatte, um Konversation zu machen, sondern um eine ganz bestimmte Reaktion, wahrscheinlich eine Frage, seinerseits zu provozieren. Aber er hatte plötzlich keine Lust mehr, sich auf eine Diskussion irgendwelcher Art mit Jonathan Graves einzulassen, und außerdem wusste er, dass er sofort und endgültig den Überblick verlieren würde, wenn er auch nur ein einziges Mal vom Schachbrett aufsah.
»Du weißt, dass sie nicht dort unten ist, nicht wahr?«, fragte Graves plötzlich.
»Wer?«, gab Mogens zurück. Er hoffte, dass Graves sich ebenso sehr auf das Schachbrett konzentrierte wie er selbst und sein unmerkliches Zusammenzucken so vielleicht nicht bemerkt hatte.
»Janice«, antwortete Graves.
Diesmal fuhr Mogens so heftig zusammen, dass Graves es gar nicht übersehen haben konnte. Er schwieg.
Graves zog seinen einzigen verbliebenen Turm vor und brachte ihn damit derart offensichtlich in Gefahr, dass Mogens sich fragte, welche Falle wohl dahinter stecken mochte. Er streckte die Hand nach seinem Läufer aus, um das so überdeutlich dargebotene Geschenk anzunehmen, zog sie dann wieder zurück und ließ seinen Blick nachdenklich über die restlichen Figuren auf dem Schachbrett schweifen. Er sah keine Falle, aber das bedeutete nicht, dass keine da war.
»Du bist mir noch eine Antwort schuldig«, sagte Graves. »Dabei bin doch eigentlich ich es, der schweigen sollte.«
»Warum?«, gab Mogens beinahe widerwillig zurück.
»Weil ich weiß, dass dein plötzlicher Sinneswandel nur einen einzigen Grund haben kann«, antwortete Graves. »Du hoffst, Janice dort unten zu finden. Du weißt natürlich, dass das nicht der Fall sein wird. Es ist sogar nahezu vollkommen ausgeschlossen. Aber etwas genau zu wissen, hat noch nie jemanden davon abgehalten, an das genaue Gegenteil zu glauben.«
Mogens schlug den Turm nun doch. Wenn es eine Falle war, dann war sie so raffiniert aufgebaut, dass er sie auch dann nicht entdecken würde, wenn er noch eine Stunde auf das Schachbrett starrte. »Du redest Unsinn, Jonathan«, sagte er in ganz bewusst brüskem Tonfall. »Wenn Miss Preussler die Wahrheit sagt, dann ist es einfach unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit, dort hinunterzugehen und diese armen Menschen aus der Gewalt der Bestien zu befreien.«
»Wenn sie die Wahrheit sagt?«, wiederholte Graves und machte einen weiteren, Mogens' Meinung nach noch viel unsinnigeren Zug, der ihn nun vollends verwirrte. »Zweifelst du etwa plötzlich an Miss Preusslers Aufrichtigkeit?«
»Nein«, antwortete Mogens. »Aber sie hat es selbst gesagt: Sie war in Panik. Sie hatte Todesangst. Wahrscheinlich war sie vollkommen hysterisch - ich an ihrer Stelle wäre es jedenfalls gewesen -, und dazu noch diese Bestien, die ihr weiß Gott was angetan haben. Ich wäre jedenfalls nicht erstaunt, wenn sie einer Halluzination erlegen wäre.«
Graves konzentrierte sich für eine gute Minute auf das Schachbrett, bevor er antwortete. »Dann hast du die Hoffnung also aufgegeben, Janice zu finden?«, erkundigte er sich in fast beiläufigem Ton.
»Jonathan - was soll das?«, fragte Mogens. »Ich tue, was du willst, und begleite dich noch einmal diese verfluchte Kammer hinab. Was hast du vor? Willst du mich aus purer Bosheit ein bisschen quälen?«
»Nein«, sagte Graves, zog seine Dame vor und schlug damit Mogens' Turm. »Ich will gewinnen. Schachmatt.«
Mogens starrte ebenso verblüfft wie fassungslos auf das Schachbrett. Er streckte die Hand nach den Figuren aus, zog sie wieder zurück, streckte sie noch einmal aus und schüttelte schließlich verwirrt den Kopf. »Sag mir nicht, du hast dieses Thema nur angesprochen, um mich abzulenken«, sagte er.
»Ich pflege jeden Vorteil zu nutzen, der sich mir bietet«, sagte Graves gelassen. »Du gibst zu, dass ich dich geschlagen habe?«
»Wenn du darauf bestehst«, sagte Mogens übellaunig. »Auch wenn ich nicht verstehe, wie. Aber bitte: Du hast mich geschlagen.«