Выбрать главу

Zumindest Letzteres kam Mogens sehr unwahrscheinlich vor. Auch wenn er die letzten Jahre seines Lebens in freiwilliger Verbannung verbracht hatte, so war die Zeit seines Aufenthalts unter Forscherkollegen doch noch nicht so lange her, dass er alles vergessen hatte. Wissenschaftler liebten es, sich mit ihren Entdeckungen und Fortschritten zu brüsten und jedem, der etwas darüber hören wollte, davon zu erzählen - oft genug auch jedem, der es nicht wollte.

Dennoch nickte Tom heftig, als er seinen zweifelnden Blick bemerkte, und fügte hinzu: »Der Doktor hat es strengstens verboten und alle halten sich dran. Ich kann Ihnen nicht sagen, worum es sich bei der Arbeit handelt, nur, dass sie irgendwas gefunden haben und wohl dabei sind, es auszugraben.« Er streifte Mogens' Gesicht mit einem nervösen Blick. »Sie werden doch nicht...«

»Keine Sorge«, beruhigte ihn Mogens. »Ich verrate dich nicht.«

Tom machte ein erleichtertes Gesicht. »Danke. Es ist nur... ich glaube, der Doktor wollte sich nicht den Spaß nehmen lassen, Ihnen seinen Fund persönlich zu zeigen. Er ist sehr stolz darauf.«

Es fiel Mogens schwer, das Wort Spaß mit der Erinnerung an Jonathan Graves in Einklang zu bringen. Aber er verbiss sich jede entsprechende Bemerkung. Er hatte sich mittlerweile ein hinlängliches Bild über Tom gemacht, um sicher zu sein, dass es ihn nur wenige Sätze kosten würde, ihn zum Weiterreden zu bringen. Aber nun, da er seinen jugendlichen Fahrer nicht mehr als bloßes Requisit auf dieser letzten Etappe seiner Reise betrachtete, sondern als Person, mochte er ihn nicht mehr in eine so unbehagliche Situation bringen. Zumal es um Graves ging. Sollten ihm oder Tom auch nur eine entsprechende Bemerkung entschlüpfen, würde der Junge garantiert darunter leiden müssen.

»Arbeitet es sich gut mit Doktor Graves?«, fragte er.

Tom bugsierte den Ford mit einem heftigen Kurbeln am Lenkrad um einen schubkarrengroßen Felsbrocken herum, der mitten auf der Fahrspur lag, bevor er antwortete. Mogens hatte nicht auf die Strecke geachtet, aber er wäre trotzdem jede Wette eingegangen, dass er vor einem Augenblick noch nicht da gewesen war. »Das kann ich so nicht sagen«, sagte Tom schließlich.

»Wie das?«, wunderte sich Mogens. »Wo du doch schon länger mit ihm arbeitest?«

»Niemand arbeitet mit dem Doktor«, antwortete Tom. »Jedenfalls nicht direkt. Er ist fast immer allein in seinem Allerheiligsten und die übrige Zeit in seiner Blockhütte, die niemand betreten darf.« Er beantwortete Mogens' nächste Frage, noch bevor er sie überhaupt stellen konnte. »Ich war einmal dort. Es ist alles voller Bücher und... seltsamer Dinge. Ich weiß nicht, was sie bedeuten.«

Im allerersten Moment ließen seine Worte - und viel mehr noch die Art, auf die er sie aussprach - Mogens einen eiskalten Schauer über den Rücken laufen, aber dann breitete sich ein amüsiertes Lächeln auf seinen Lippen aus. Die Vertrautheit, die das kurze Gespräch zwischen ihnen geschaffen hatte, durfte ihn nicht vergessen lassen, mit wem er eigentlich redete - nämlich mit einem Jungen vom Lande, dem vermutlich alles unheimlich vorkam, was irgendwie mit Wissenschaft zu tun hatte. Mogens beschloss endgültig, sich in Geduld zu fassen.

Auch wenn Tom sich gehütet hatte, auch nur eine entsprechende Bemerkung zu machen, so reichte Mogens' Menschenkenntnis doch allemal, um zwischen den Zeilen zu lesen. Wenn er nur ein wenig Geschick und Umsicht walten ließ, so hatte er einen - zumindest hypothetischen - Verbündeten gewonnen, noch bevor er Graves auch nur wiedersah.

Auf solche Art einigermaßen versöhnt mit dem bisherigen Verlauf seiner Reise, lehnte sich Mogens im Sitz zurück und versuchte, den Rest ihrer Fahrt zu genießen, so weit die unwegsame Strecke dies zuließ. Tom hatte jedoch die Wahrheit gesagt: Die Fahrt dauerte nicht mehr allzu lange. Es begann allmählich zu dämmern, und die dichter werdenden Schatten und das Licht, das sich allmählich ins Rötliche verschob, ließen ihre Umgebung noch unwirklicher und auf schwer beschreibbare Weise bedrohlicher erscheinen. Die Straße, die gewiss nicht für Automobile gebaut war, sondern allenfalls für Ochsenkarren oder die im Klettern geübten Hufe von Bergziegen, schlängelte sich in immer steilerem Winkel den Hügel hinauf, und obwohl Tom den Weg tatsächlich wie seine Westentasche zu kennen schien, musste er ein oder zwei Mal anhalten und ein Stück zurücksetzen, um eine besonders scharfe Kehre zu nehmen.

Endlich aber hatten sie es geschafft; der Ford quälte sich auf einen schmalen Grat hinauf, rollte noch ein paar Fuß und blieb dann stehen, als Tom auf die Bremse trat und gleichzeitig den Hebel des Schaltgetriebes nach vorne schob. Der Professor setzte zu einer entsprechenden Frage an, aber dann folgte sein Blick dem Toms und ihm wurde klar, warum sein Chauffeur angehalten hatte. Der Weg folgte ein gutes Stück weit dem Grat, schlängelte sich dann auf der anderen Seite in womöglich noch steilerem Winkel den Berg hinab, sodass Mogens es nicht einmal wagte, sich vorzustellen, wie der Rest ihrer Fahrt aussehen mochte. Dahinter aber, weniger als eine Meile entfernt und in einem unregelmäßigen Drittelkreis an die Flanke des Berges geschmiegt, den sie gerade erklommen hatten, lag eine kleine Stadt, wie sie typisch für diesen Teil des Landes war. Mogens war zwar noch nie hier gewesen, hatte sich aber selbstverständlich in den letzten Tagen so weit informiert, wie es in einer Stadt wie Thompson mit ihren begrenzten Möglichkeiten ging. Der Ort schien nur aus einer einzigen Straße zu bestehen, die der unregelmäßigen Krümmung der Bergflanke folgte und von unten betrachtet vermutlich schnurgerade wie mit einem Lineal gezogen aussehen musste. Die Gebäude waren klein, zum allergrößten Teil nur eingeschossig; nur zur Ortsmitte hin erhoben sich einige wenige größere Häuser, deren aufgesetzte Fassaden jene täuschen mochten, die sie nur im Vorbeifahren eines flüchtigen Blickes würdigten, von der Höhe des Kammes aus betrachtet die Schäbigkeit der dahinter liegenden Gebäude aber eher noch unterstrichen. Zu seinem Erstaunen entdeckte Mogens sogar ein Bahnhofsgebäude samt dem obligatorischen Wasserturm. Aber keinerlei Schienen. Auf eine entsprechende Frage hin hob Tom die Schultern und zwang ein schiefes Grinsen auf sein Gesicht.

»Die Bahnlinie nach San Francisco ist nur ein paar Meilen entfernt - gleich auf der anderen Seite«, sagte er. »Vielleicht hat der Bürgermeister damals geglaubt, der Anschluss kam von selber, sobald der Bahnhof da ist.«

»Aber er kam nicht.«

»Nein«, bestätigte Tom kopfschüttelnd. »Aber das war vor meiner Geburt. Damals gab es viele Eisenbahnarbeiter hier. Etliche sind geblieben, aber die meisten sind weggegangen, nachdem klar war, dass es keinen Bahnhof geben würde.«

Toms Erklärung klang beiläufig, und das war sie wohl auch; etwas, von dem er gehört hatte und das sich zugetragen hatte, lange bevor er überhaupt auf die Welt gekommen war und ihn somit nicht berührte. Mogens jedoch empfand für einen flüchtigen Moment ein sonderbares Gefühl der Trauer, während er auf den kleinen Ort hinabsah, der selbst aus der Entfernung trostlos wirkte. Er kannte die Menschen dort unten nicht und hatte weder Anteil an ihrem Schicksal noch die Möglichkeit, irgendetwas für sie zu tun, und dennoch berührte es ihn tiefer, als er es sich im ersten Moment erklären konnte. Dieser Ort war gestorben, noch bevor er jemals richtig gelebt hatte, nur weil irgendjemand mit einem willkürlichen Federstrich entschieden hatte, dass das kleine Bahnhofsgebäude niemals seiner Bestimmung übergeben werden sollte. Dabei lag eine der größten Städte des Landes praktisch zum Greifen nahe. Wie dicht doch pulsierendes Leben und allmähliches Dahinsiechen manchmal beieinander lagen.