Trotzdem sah er, dass die Schnecke nicht allein gekommen war.
Ganz und gar nicht.
Miss Preussler stieß einen kleinen, spitzen Schrei aus und schlug beide Hände vor den Mund, und auch Mogens' Selbstbeherrschung reichte nun nicht mehr. Abrupt sprang er in die Höhe, prallte einen Schritt zurück und fuhr herum - nur um erneut und diesmal ebenfalls mit einem angeekelten Laut auf den Lippen zu erstarren.
So weit das weiße Licht der Laterne reichte, war der gesamte Boden rings um sie herum zu wimmelndem, schleimigem Leben erwacht. Es mussten Millionen sein, zumindest aber Tausende und Abertausende haarloser, winziger, sich drehender, windender, kriechender und krabbelnder Leiber, die aus dem Boden herausgekrochen waren, ihre Fußstapfen füllten - Mogens versuchte sich mit aller Gewalt dagegen zu wehren, aber plötzlich hörte er wieder das grässliche Geräusch, das ihre Schritte vorhin auf dem vermeintlich matschigen Untergrund verursacht hatten, und mit einem Male bekam es eine ganz andere, schreckliche Bedeutung in seinen Ohren -, sich in Furchen und Radspuren ergossen und sich hier und da zu grotesken Gebilden aufzutürmen schienen, die ebenso schnell wieder in sich zusammenfielen, wie sie entstanden.
»Mein Gott, Professor - was ist das?«, hauchte Miss Preussler.
Selbst wenn Mogens die Antwort auf diese Frage gewusst hätte, hätte er in diesem Moment keinen Laut hervorgebracht. Er spürte zwar instinktiv, dass sie nicht wirklich in Gefahr waren, aber der Anblick war so bizarr und ekelerregend, dass er ihm buchstäblich die Kehle zuschnürte. Überall rings um sie herum wuselte und glitt es, und auch wenn die Geschöpfe vermutlich nicht in der Lage waren, irgendeine Lebensäußerung von sich zu geben, so produzierten sie in ihrer Masse und Bewegung sehr wohl Geräusche: ein schleimiges, gluckerndes Fließen und Klatschen, ein Geräusch wie Schritte in klebrigem Morast, aber ungleich ekelerregender, fremdartiger, und als wäre das allein noch nicht genug, war er nun fast sicher, ein Muster in der allgegenwärtigen Bewegung zu erkennen. Die einzelnen Tiere bewegten sich scheinbar vollkommen willkürlich, und dennoch hatte Mogens plötzlich den sicheren Eindruck, dass Miss Preussler, Tom, Graves und er sich genau im Zentrum eines sich langsam drehenden und zugleich um sie schließenden Kreises befanden, eines sich unendlich langsam bewegenden Malstroms, der sich unerbittlich um sie schloss und sie unweigerlich in die Tiefe reißen musste, wenn sie hier blieben.
»Keine Angst, Miss Preussler«, sagte Graves. »Das... das sind nur ein paar Schnecken oder Würmer. Ekelhaft, aber nicht gefährlich. Das Beben muss sie aus der Erde getrieben haben.« Aber auch seine Stimme zitterte, und er hatte Mühe, sie unter Kontrolle zu behalten.
Tom hob seine Lampe ein wenig höher, sodass der zitternde Lichtkreis, den sie schuf, zwar blasser, zugleich aber deutlich größer wurde. Aber auch hinter der Grenze aus Dunkelheit, die sie bisher umgeben hatte, war nicht als der aufgewühlte, schlammige Morast des Platzes zu sehen. Überall zitterte und wogte es, und Mogens wusste mit einer intuitiven Gewissheit, dass sich das Bild auch dahinter noch fortsetzen würde. Das schleimige Geräusch wurde lauter, und plötzlich glaubte er darin fast so etwas wie ein Flüstern zu vernehmen. Zumindest aber ein Muster, ebenso versteckt und fast unsichtbar wie die Bewegung der grässlichen Geschöpfe und trotzdem ebenso deutlich.
»Vielleicht sollten wir trotzdem besser ins Haus gehen«, schlug Tom vor.
Keiner von ihnen widersprach. Selbst Graves wandte sich mit einer hastigen Bewegung um und ging los, und Mogens folgte ihm ebenso schnell. Nach zwei Schritten blieb er wieder stehen und drehte sich zu Miss Preussler um, doch Tom war ihnen auch diesmal zuvorgekommen: Er war neben sie getreten, hielt mit der linken Hand die Laterne hoch über seinen Kopf und hatte mit der anderen Miss Preusslers Arm ergriffen und führte sie. Für den Bruchteil eines Augenblicks empfand Mogens einen tiefen Stich einer vollkommen widersinnigen Eifersucht, für die er sich fast augenblicklich schämte. Er hatte weder einen Grund noch ein Recht dazu: Tom war der Einzige, der sich in diesem Augenblick auch nur annähernd wie ein Mann verhalten hatte, obwohl er es noch nicht einmal ganz war.
Er konzentrierte sich darauf, Graves so rasch zu folgen, wie es nur ging - was sich als gar nicht so einfach erwies. Die Zahl der Schnecken war noch viel größer, als es im ersten Moment den Anschein gehabt hatte. Mogens schrak instinktiv davor zurück, auf die grässlichen Geschöpfe zu treten, doch es erwies sich als nahezu unmöglich, auch nur einen Flecken Boden zu finden, der groß genug war, um seinen Fuß darauf zu setzen. Die ekelerregenden Kreaturen zerplatzten mit leisen, widerlichen Geräuschen, wenn er darauf trat, und er konnte fühlen, wie seine Schuhsohlen klebrige Fäden hinter sich her zogen, wenn er den Fuß wieder hob. Sein Magen begann zu rebellieren, und tief in ihm erwachte eine Furcht, die uralt und viel zu archaisch war, als dass er sie mit Logik oder kühler Sachlichkeit bekämpfen konnte. Mogens war halb wahnsinnig vor Furcht und ganz eindeutig am Ende seiner Kraft und Beherrschung angelangt, als er endlich das Haus erreichte und sich mit einem großen Schritt auf die unterste der drei hölzernen Stufen vor der Eingangstür rettete. Vielleicht war der einzige Grund, aus dem er nicht hysterisch geworden war, Miss Preussler, die wenige Schritte hinter ihm war, und in deren Gegenwart er sich eine solche Schwäche nicht leisten wollte.
Graves hatte mittlerweile die Tür geöffnet und war bereits im Haus verschwunden. Mogens wollte ihm folgen - er musste es, denn Miss Preussler kam nur wenige Schritte hinter ihnen herangewalzt, und sie machte nicht den Eindruck, als würde sie anhalten, nur weil ein völlig verstörter Professor von der Universität ihrer Heimatstadt leichtsinnigerweise die Treppe blockierte -, aber dann zögerte er doch noch einmal, ließ sich hastig in die Hocke sinken und schlüpfte aus seinen Schuhen, so schnell er konnte.
Und keinen Sekundenbruchteil zu langsam. Miss Preussler reagierte auf die lebende Barrikade, die er bildete, ganz genau so, wie er erwartet hatte - nämlich gar nicht -, und Mogens konnte sich gerade noch mit einem hastigen Satz durch die Tür retten, bevor sie hereinstürmte. Tom hatte längst den Anschluss verloren und folgte ihr in vier oder fünf Schritten Abstand, hielt aber dann ebenso wie Mogens auf der obersten Stufe an und drehte sich noch einmal um; wenn auch nicht, um seine Schuhe auszuziehen, sondern um seine Lampe noch höher zu heben, sodass ihr Lichtschein nun einen guten Teil des Platzes vor dem Haus erhellte.
Was Mogens in dem knochenbleichen Licht erkannte, verlieh der Übelkeit, die in seinem Magen und in seinen Eingeweiden wühlte, eine vollkommen neue Qualität.
So weit das Auge blickte, schien der gesamte Platz zu wimmelndem, schleimigem, kriechendem Leben erwacht zu sein. Von der schrecklichen Malstrom-Bewegung war nun nichts mehr zu sehen, aber er korrigierte seine Schätzung, was die Anzahl der Kreaturen anging, noch einmal um ein gewaltiges Stück nach oben. Er war plötzlich nicht einmal mehr sicher, ob es tatsächlich ein Erdbeben gewesen war, was er vorhin gespürt hatte. Die schiere Menge dieser grässlichen Geschöpfe erschien ihm durchaus groß genug, um zumindest die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass es ihre bloße Annäherung gewesen war, die das Zittern im Boden hervorgerufen hatte.
»O mein Gott«, murmelte Miss Preussler. Sie war hinter ihn getreten und blickte an seiner Schulter vorbei nach draußen. »Was ist das? Doktor Graves, was sind es für grässliche Kreaturen?«
»Das weiß ich nicht, Miss Preussler«, antwortete Graves. Er hatte sich wieder gefangen. Das Zittern mühsam unterdrückter Panik war aus seiner Stimme verschwunden, und auch sein Gesicht hatte wieder den gewohnten, überheblichen Ausdruck angenommen. »Ich bin Altertumsforscher, meine Liebe, kein Biologe.«