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»Und vor allem um ihre Pünktlichkeit.« Graves trat gebückt durch den Eingang und ließ sich mit einem übertriebenen Ächzen am Rand des Schachtes in die Hocke sinken. Seine Gelenke knackten hörbar. »Ich werde ein ernstes Wort mit Tom reden müssen, wenn das hier vorbei ist. Ich weiß nicht, was der Junge treibt. Immer, wenn ich da bin, ist er dort, und anders herum.«

»Wahrscheinlich hat er gerade das Märchen vom Hasen und dem Igel gelesen«, sagte Mogens amüsiert.

Graves spießte ihn mit Blicken regelrecht auf, enthielt sich aber jeden Kommentars, sondern beugte sich vor und spähte einen Moment lang so konzentriert in den Schacht hinab, als könne er all die Antworten, die in der Dunkelheit dort unten verborgen waren, einfach herbeizwingen, wenn er es nur beharrlich genug versuchte.

»Unsere Zeit wird allmählich knapp«, sagte er schließlich.

Mogens zog die Taschenuhr hervor, klappte den Deckel auf und erschrak. »Es sind nur noch wenige Minuten bis Mitternacht.«

Graves' Blick wurde fast verächtlich. »Niemand hat je gesagt, dass wir genau zur Geisterstunde dort unten sein müssen«, sagte er liebenswürdig.

»Aber ich dachte...«

»Meinen Berechnungen nach musste sich das Tor irgendwann innerhalb der nächsten Stunde öffnen und bis morgen Mittag geöffnet bleiben. Natürlich kann man es nicht auf die Minute genau sagen, aber ich bin mir ziemlich sicher.«

Das war eine interessante Information, dachte Mogens verärgert. Graves hatte bisher nichts von irgendwelchen Berechnungen gesagt, und er war sogar ziemlich sicher, dass ihm die Worte auch jetzt nur versehentlich entschlüpft waren. Ein weiterer Minuspunkt in Graves' Bilanz. Aber die sah sowieso katastrophal aus.

»Welches Tor?«, fragte Miss Preussler misstrauisch. »Sie wollen sich doch nicht schon wieder mit irgendwelchen unchristlichen Riten beschäftigen, Doktor.«

»Vor«, verbesserte sie Graves arrogant. »Vorchristlich, meine Liebe. Nicht unchristlich.« Er hatte immer noch nicht endgültig akzeptiert, dass es ihm nicht gelungen war, sie von ihrem Vorhaben abzubringen, und verlegte sich nun aufs Bocken.

»Das ist für mich kein Unterschied, Doktor«, beschied ihn Miss Preussler. »Ketzerei bleibt Ketzerei.«

Graves setzte zu einer wütenden Antwort an, beließ es aber dann nur bei einem trotzigen Verziehen der Lippen und stand mit einem Ruck auf. »Ich werde noch einmal sehen, wo Tom bleibt«, grollte er im Hinausgehen. »Und vielleicht suche ich bei der Gelegenheit auch gleich Holz für einen Scheiterhaufen.«

Mogens sah ihm kopfschüttelnd nach, wandte sich aber trotzdem mit einer besänftigenden Geste wieder zu Miss Preussler um. Er gönnte Graves jeden einzelnen Nadelstich, den sie ihm versetzte, aber es mochte sein, dass sie in weniger als einer Stunde darauf angewiesen waren, einander ihr Leben anzuvertrauen.

»Ja, ich weiß, es ist schon gut«, kam sie seinen Worten zuvor. »Das war dumm. Aber es fällt mir nun einmal schwer, Sympathien für diesen Mann zu empfinden.«

»So wie mir«, sagte Mogens.

»Warum sind Sie dann mit ihm gegangen?«

Mogens wusste sehr wohl, dass er jetzt besser beraten wäre, nicht zu antworten oder allenfalls mit einer Ausflucht oder einer frommen Lüge, aber zugleich hatte er auch plötzlich das Gefühl, ihr wenigstens jetzt die Wahrheit schuldig zu sein. »Ich dachte, es wäre meine letzte Chance«, sagte er.

»Ihre letzte Chance? Worauf?«

»Wieder ins Leben zurückzukehren«, antwortete Mogens leise. »Allem zu entkommen. Dieser schrecklichen Universität. Dieser Stadt mit ihrer Enge und Kleinmütigkeit. Diesem furchtbaren Zimmer. Ihnen.«

»Oh«, machte Miss Preussler.

»Das war es, was ich damals dachte«, fuhr Mogens ruhig fort. »Aber ich habe rasch gemerkt, wie sehr ich mich getäuscht habe. Vielleicht sind wir immer mit dem unzufrieden, was wir haben. Und vielleicht merken wir immer erst dann, wie kostbar es ist, wenn wir es nicht mehr haben.« Er war zu weit entfernt, um nach Miss Preusslers Hand zu greifen, aber er hätte es gern getan, und er hatte das sichere Gefühl, dass sie es auch wusste.

»Ich habe vorhin zu Ihnen gesagt, dass Sie nicht hätten herkommen sollen«, fuhr er fort. »Dasselbe gilt auch für mich. Ich hätte Graves niemals vertrauen dürfen. Der Mann ist ein Monster.«

»Warum haben Sie es dann getan?«

»Das ist eine lange Geschichte«, antwortete Mogens.

»Und sie hat mit dem zu tun, weswegen Sie in unsere enge und kleinmütige Stadt gekommen sind«, vermutete Miss Preussler. Sie legte den Kopf auf die Seite und sah ihn fragend an. »Einer Frau?«

»Ja«, hörte sich Mogens zu seiner eigenen Überraschung antworten.

»Aber Sie möchten nicht darüber reden.«

Wenn es überhaupt einen Menschen auf der Welt gab, mit dem er über jene schreckliche Nacht vor neun Jahren sprechen konnte - und, ja, und wollte! -, dann war es Miss Preussler. Aber nicht jetzt.

»Später, Miss Preussler«, sagte er. »Vielleicht bin ich eines Tages so weit, darüber reden zu können.«

»Aber wenn Sie doch einsehen, dass es ein Fehler war, Doktor Graves zu vertrauen«, fuhr Miss Preussler fort, »warum folgen Sie ihm dann noch immer?« Sie deutete auf den Schacht. »Ich sehe Ihnen doch an, wie viel Angst Sie vor dem haben, was dort unten ist. Warum gehen Sie nicht einfach? Niemand zwingt Sie, noch einmal an diesen schrecklichen Ort zurückzugehen.«

»So wenig wie Sie?«, fragte Mogens.

Miss Preussler schüttelte heftig den Kopf. »Wenn Sie sich entschließen zu gehen«, sagte sie ernst, »dann werde ich Sie begleiten. Ganz gleich, was sonst geschieht.«

Mogens verspürte ein kurzes, aber ungemein tiefes Gefühl von Dankbarkeit, aber zugleich auch eine tiefe Scham, als er sich an alles erinnerte, was er je über Miss Preussler gedacht hatte. Vielleicht, dachte er ernsthaft, war Miss Preussler die einzige Person auf der Welt, der wirklich etwas an ihm lag.

»Ich habe keine Wahl«, sagte er bedauernd. Auch in diesem Punkt hatte Graves Recht gehabt. Er wusste, wie aberwitzig gering die Chance war, Janice dort unten und noch dazu lebend wiederzufinden, aber zu wissen, dass etwas nicht sein konnte, hatte Menschen noch niemals daran gehindert, dennoch daran zu glauben.

Miss Preussler antwortete nicht mehr, und für eine Weile begann sich eine sehr sonderbare Stille zwischen ihnen breit zu machen. Mogens war fast froh, als nach einigen Minuten die Zeltplane zurückgeschlagen wurde und Graves zurückkam, diesmal nicht allein, sondern gefolgt von Tom.

Mogens zog überrascht die Brauen zusammen, als er den Jungen sah. Genau wie Graves trug er eine Art Tropenanzug samt Stiefeln und Helm, an dem er eine Grubenlampe befestigt hatte. Es sah einigermaßen albern aus, fand Mogens, musste zugleich aber zugeben, dass Tom wieder einmal als Einziger halbwegs praktisch gedacht hatte. Aber er trug einen gewaltigen Rucksack auf dem Rücken und dazu in jeder Hand ein Repetiergewehr. Auch Graves war nicht mit leeren Händen gekommen. Er hielt eine brennende Zigarette in der rechten und ein mit einem Schraubdeckel verschlossenes Glas in der linken Hand, in der sich eines der kleinen haarlosen Schneckengeschöpfe befand.

»Sie sind alle wieder in der Erde verschwunden«, sagte er, als er Mogens' fragenden Blick bemerkte. »Ich konnte gerade noch ein Exemplar einfangen. Wir werden es später untersuchen.«

»Und warum bringst du es mit hierher?«

»Man weiß nie, wo eine Reise endet, nicht wahr?«, fragte Graves achselzuckend. Er sah Mogens und Miss Preussler abwechselnd an. »Bereit?«

Mogens stand wortlos auf, würdigte Graves jedoch nicht einmal einer Antwort, sondern streifte die beiden Gewehre in Toms Händen mit einem unbehaglichen Blick. Selbstverständlich war es richtig, dass Tom Waffen mitgebracht hatte, nach allem, was sie erlebt hatten, aber das änderte nichts daran, dass ihn ihr Anblick erschreckte.