Tom deutete seinen Blick falsch und hielt ihm eines der Gewehre hin. Mogens schüttelte fast erschrocken den Kopf und wich sogar einen halben Schritt zurück. Miss Preussler hingegen schien sich eher für den gewaltigen Rucksack zu interessieren, den Tom auf einem Traggestell auf dem Rücken trug. Er überragte seinen Kopf nicht nur um mehr als eine Handspanne, Mogens vermutete, dass er nicht viel weniger wog als Tom selbst.
»Was, um alles in der Welt, schleppst du da mit, Thomas?«, fragte sie. »Hast du vor, zu einer Expedition zum Nordpol aufzubrechen?«
Tom grinste. »Was man eben so braucht, Miss Preussler. Kleider zum Wechseln, Lebensmittel für eine Woche, Probiergläser und Decken, Doktor Graves' fotografische Ausrüstung, Munition und Schlafsäcke, Petroleum für die Lampen...«
»Ein Klavier?«, fragte Miss Preussler lächelnd.
Tom machte ein betroffenes Gesicht. »Ich wusste, dass ich was vergessen hab«, sagte er. »Soll ich rasch laufen und es holen?«
»Hör mit den Albernheiten auf, Tom«, sagte Graves streng. Er klappte seine Uhr auf. »Es wird Zeit.« Er wandte sich dem Schacht zu, hielt dann noch einmal inne und reichte Tom das Glas mit der einzelnen Schnecke. »Hier, nimm das.«
40.
Die Stille war allumfassend. Was Mogens vorhin über die Dunkelheit gedacht hatte, das galt hier unten ebenso für jegliche Art von Geräusch. So wie Dunkelheit der Urzustand der Dinge war, bevor sie waren, hatte es Stille gegeben, lange bevor das erste Geräusch durch das Universum hallte, und ebenso wie die Dunkelheit würde sie wieder herrschen, wenn alles vorüber und das kurze Zwischenspiel längst vergessen war, das die Menschen Ewigkeit nannten.
Dabei war die Stille fast noch schlimmer als die Dunkelheit. Das Dunkel konnten sie mit den Strahlen ihrer Lampen vertreiben, die lautlos wie die tastende Hand eines Blinden vor ihnen hereilte, die Stille jedoch schien sich beharrlich zu weigern, den Lauten zu weichen, die sie selbst verursachten.
Vielleicht, dachte Mogens schaudernd, weil es eben nicht nur Stille war, sondern etwas von ganz anderer, bedrohlicher Qualität. Die Dunkelheit war immer hier unten gewesen, bevor diese Räume und Gänge entstanden waren; und auch die allermeiste Zeit danach. Die Stille aber war neu, und sie bedeutete mehr, als Mogens zuzugeben bereit war. Selbst so tief unter der Erde war es niemals ganz still. Man hätte das Knacken des Felsens hören müssen, das Rascheln winziger Lebewesen, die es selbst hier unten gab, das Geräusch der Luft, die durch das Labyrinth aus Gängen und natürlich entstandenen Hohlräumen strich, ja, selbst die bewusst kaum wahrnehmbaren und dennoch stets präsenten Atemzüge der Erde selbst, deren Lebenszyklus sich vielleicht gar nicht einmal so sehr von dem des Menschen unterschied, nur dass er unendlich viel langsamer war.
Nichts von alledem war zu spüren. Es war nicht einfach nur still, weil hier unten nichts mehr war, was ein Geräusch verursacht hätte. Das Gegenteil war der Fall. Irgendetwas war hier. Das Schweigen hatte Substanz gewonnen und war zu etwas geworden, das einfach nichts anderes in seiner Nähe mehr zuließ.
Der Weg kam ihm weiter vor als jemals zuvor. Er hatte sich niemals die Mühe gemacht, die Schritte vom Eingang hierher in die erste, größte Kammer zu zählen, und doch war er fast sicher, dass sie nun mindestens die doppelte Anzahl zurückgelegt hatten wie jemals zuvor. Miss Preussler war so dicht neben ihn getreten, dass der grobe Stoff ihres Kleides manchmal seine Schulter streifte, ein ganz normaler menschlicher Reflex in dieser lebensfeindlichen und stillen Umgebung, und dennoch fragte sich Mogens instinktiv, ob sie wohl auch nur ahnte, wie viel Kraft sie ihm allein durch ihre bloße Nähe gab - und ob es umgekehrt wohl auch so war.
Graves und Tom waren bisher etliche Schritte vorausgeeilt, nun aber blieben sie stehen, sodass der Abstand zwischen ihnen wieder zusammenschmolz. Graves ließ den Lichtstrahl seiner Laterne langsam über die Felswände gleiten, zögernd und fast unsicher, als suche er nach etwas, von dem er zwar genau wusste, dass es da war, während er zugleich aber auch befürchtete, es zu übersehen. Tom tat im Großen und Ganzen dasselbe, nur dass er das Repetiergewehr erhoben und auch bereits durchgeladen hatte - Mogens erinnerte sich im Nachhinein an das scharfe metallische Klicken, mit dem die Patrone in die Kammer geglitten war, und er war ziemlich sicher, dass es nicht das mindeste Echo verursacht hatte - und mit seinem Lauf dem zitternden Lichtkreis auf der Wand folgte.
»Was suchst du?«, fragte er, nachdem Miss Preussler und er neben den beiden angekommen waren.
Graves machte eine unwillige Geste, still zu sein, und ließ seinen Lichtstrahl weiter und mit enervierender Langsamkeit über die Wände gleiten, wo sie ein bizarres Panoptikum aus natürlich gewachsenen Felsformen und gemeißelten Göttergesichtern und -gestalten aus der Schwärze riss und fast ebenso rasch wieder in ewige Dunkelheit zurückstieß. Das huschende Licht erschuf die Illusion von Leben, wo keines war, schien die Stille aber nur noch zu verstärken. Mogens versuchte vergeblich, sich des beklemmenden Gefühls zu erwehren, das mit diesem Schweigen einherging. Sein Herz schlug langsam, aber schwer und sehr hart.
»Irgendetwas ist hier«, murmelte er.
Graves machte erneut eine Geste, still zu sein, was ihn aber nicht daran hinderte, zu antworten. »Das will ich doch hoffen.«
Tom senkte sein Gewehr - nicht weit, aber dennoch genug, dass auch Mogens' Anspannung ein wenig sank -, nickte fast unmerklich und ging dann zusammen mit Graves los; allerdings nicht in Richtung des Hieroglyphenganges, wie Mogens erwartet hatte, sondern in die entgegengesetzte. Mogens tauschte einen überrascht-fragenden Blick mit Miss Preussler - welche Antwort er erwartete, wusste er allerdings selbst nicht - und beeilte sich dann, Tom und Graves zu folgen. Auch Miss Preussler und er waren mit jeweils einer der kleinen, aber ungemein starken Grubenlampe ausgerüstet, doch sie waren übereingekommen, solange es nichts Außergewöhnliches zu sehen gab, immer nur die Hälfte ihrer Lampen zu benutzen, um Brennstoff zu sparen.
Sie gingen, langsam und immer wieder innehaltend, wenn Graves stehen blieb, das Licht seines Scheinwerfers über die Wände, den Boden und ein- oder zweimal auch über die Decke gleiten ließ, weiter in den riesigen unterirdischen Saal hinein. Die Wandmalereien nahmen ab, je weiter sie sich vom Eingang entfernten, und bald sahen sie nur noch scharfkantigen Fels, den keines Menschen Hand je berührt hatte. Dann fiel mehr Lichtschein durch einen niedrigen, unregelmäßig geformten Durchgang, hinter dem er sich in vollkommener Schwärze verlor.
»Was ist das hier, Professor?«, flüsterte Miss Preussler.
Mogens war schon einmal hier gewesen und wusste auch, was auf der anderen Seite des niedrigen Durchgangs lag, aber er verstand nicht, warum Graves sie hierher führte, und so deutete er nur ein Schulterzucken an und folgte ihm und Tom.
Obwohl er vorgewarnt war, stieß er sich zweimal den Kopf an der niedrigen Decke, bevor er sich wieder aufrichten konnte, und so wie es sich anhörte, erging es Miss Preussler hinter ihm nicht viel besser; auch wenn er argwöhnte, dass sie wohl eher Mühe hatte, nicht in dem schmalen Gang stecken zu bleiben.
In der kleinen Höhle angekommen, die sich dahinter erstreckte, trat er gerade weit genug zur Seite, um ihr Platz zu machen, und blieb dann stehen. Er fühlte sich mit jedem Moment unwohler. Er sollte nicht hier sein. Er wollte nicht hier sein.
Auch Graves war stehen geblieben und ließ den Strahl seiner Grubenlampe langsam über die gegenüberliegende Wand mit den Felszeichnungen der Dogon streichen. Nach allem, was Mogens in den zurückliegenden Tagen hier unten gesehen hatte, kamen ihm die einfachen Strichzeichnungen primitiv und ungelenk vor - aber zugleich schienen sie auch etwas zu beinhalten, was all den Hieroglyphen, Basreliefs und Skulpturen im anderen Teil der Anlage abging. Mogens konnte nicht sagen, was, aber es war da.