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Graves ließ seinen Lichtstrahl noch einmal langsam über den Stein tasten, richtete ihn für einen kurzen Moment auf eine bestimmte Stelle - und schaltete die Lampe dann ab. Neben Mogens fuhr Miss Preussler spürbar zusammen.

»Tom«, sagte Graves, »lösch das Licht.«

Tom gehorchte, und es wurde schlagartig und absolut dunkel. Miss Preussler sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein, und auch Mogens' ungutes Gefühl nahm schlagartig noch weiter zu. »Doktor Graves, halten Sie es für eine gute Idee, dass...«

»Still«, unterbrach ihn Graves. Mogens konnte hören, wie er neben ihm in der Dunkelheit eine unwillige Bewegung machte. »Sehen Sie!«

Im ersten Moment sah Mogens auch weiter gar nichts. Die Dunkelheit erschien ihm absolut. Aber dann erkannte er, dass das nicht stimmte.

Vor ihnen glomm ein ganz sachter, blaugrüner Schein, so unstet wie der Glanz eines leuchtenden Insekts und auch kaum weniger schwach. Selbst in der vollkommenen Dunkelheit, die ringsum herrschte, dauerte es etliche Sekunden, bis sich seine Augen weit genug umgestellt hatten und er das System in dem scheinbar willkürlichen Tanz winziger leuchtender Staubkörner erkannte.

»Ist es das, Doktor Graves?«, fragte Tom. Seine Stimme bebte vor Aufregung »Ist es das?«

»Ja, Tom«, antwortete Graves. »Das ist es.« Seine Stimme klang nicht aufgeregt, sondern ganz eindeutig voller Ehrfurcht.

»Das ist was, Jonathan?«, fragte Mogens. Er machte einen einzelnen Schritt, um an Graves vorbeizugehen, aber der griff rasch nach seinem Arm und hielt ihn zurück. »Nicht!«, sagte er. »Rühr es nicht an. Sieh nur hin. Erkennst du es denn nicht?«

Mogens konzentrierte sich, aber im allerersten Moment ohne Erfolg: Die leuchtenden Pünktchen blieben, was sie waren: ein gutes Dutzend unterschiedlich großer und unterschiedlich heller Funken, die einander umtanzten wie Staubkörner, mit denen der Wind spielt. Und dennoch kam ihm etwas daran bekannt vor, auf eine fast schon unheimliche Weise.

Dann wusste er es. Er hatte dieses Muster schon einmal gesehen, nur nicht frei im Raums schwebend und als Tanz winziger leuchtender Punkte, die einander umkreisten und sich zu necken schienen, sondern dunkel und zweidimensional, als ungelenke und dennoch sehr präzise Felszeichnung, die in den uralten Stein der Höhle geritzt war.

Aber nicht nur dort. »O mein Gott«, hauchte er. »Das... das ist... Sirius!«

»Wie er vor fünftausend Jahren am Himmel gestanden hat, ja«, bestätigte Graves. Seine Stimme bebte vor Stolz. »Die alte Heimat der Dogon.«

Mogens hatte mit einem Male das Gefühl, dass sich die Dunkelheit der Höhle ebenso schnell um ihn zu drehen begänne, wie die winzigen Abbilder längst vergangener Sternenkonstellationen einander umkreisten. Er war kein Astronom, aber Sirius war ein sehr prägnanter Stern, den man auch ohne allzu große wissenschaftliche Vorbildung am Himmel erkannte. Es gab keinen Zweifel. Jetzt, einmal darauf aufmerksam geworden, hätte Mogens die Konstellation auch ohne Graves' Hilfe ganz eindeutig identifiziert. Was da vor ihm schwerelos und dreidimensional in der Luft tanzte, war ein präzises Abbild des Sirius und seiner Begleiter.

»Aber das ist doch... vollkommen unmöglich«, hauchte er. »Wie kann das...?«

»Das ist das Werk des Teufels!«, sagte Miss Preussler neben ihm. Mogens konnte sie nicht einmal als Schatten in der fast vollkommenen Schwärze erkennen, aber er spürte, wie sie sich bekreuzigte.

»Das ist wunderschön«, flüsterte Graves. »Sehen Sie sich nur die Präzision der Bewegungen an! Ihre Eleganz und Genauigkeit! Ich bin ganz sicher, hätten wir die Möglichkeit, es zu vergleichen, wir würden herausfinden, dass die Bahnen der Sterne um keinen Millimeter abweichen!«

»Und ich bleibe dabei, es ist Teufelswerk!«, sagte Miss Preussler. Ihre Stimme zitterte, war nun aber dennoch hart, fast befehlend geworden. Mogens lauschte jedoch vergebens auf einem Unterton von Panik oder Hysterie darin. »Wir werden diesen unheiligen Ort auf der Stelle verlassen! Kommen Sie, Professor!«

Sie ergriff Mogens am Arm und zwang ihn mit einer fast gewaltsamen Bewegung herum. Mogens versuchte sich ganz instinktiv zu widersetzen, doch in diesem Moment bekam Miss Preussler von gänzlich unerwarteter Seite Schützenhilfe.

»Sie haben Recht, meine Liebe«, sagte Graves. »Es wird Zeit, dass wir gehen. Aber gedulden Sie sich noch einen kurzen Moment. Nicht, dass sich am Ende noch jemand verletzt.«

Vor ihnen in der Dunkelheit klapperte etwas, dann hörten sie das Geräusch, wie ein Schwefelholz angerissen wurde. Mogens verspürte ein Gefühl flüchtiger, aber sehr tiefer Enttäuschung, als eine winzige Flamme den Tanz der Sterne auslöschte, dann leuchtete Graves' Scheinwerfer auf. Mogens hob geblendet die Hand über das Gesicht, und auch Miss Preussler kniff die Augen zusammen und drehte sich mit einer erschrockenen, hastigen Bewegung herum. Fast schon fluchtartig verließ sie die Höhle, und Mogens folgte ihr kaum weniger schnell - drehte jedoch noch einmal den Kopf und versuchte über die Schulter zurück einen Blick auf die Felszeichnungen zu werfen. Graves' Scheinwerfer blendete ihn jedoch so sehr, dass er nichts sah außer bunten Lichtblitzen und Sternen gänzlich anderer Herkunft, die über seine Netzhäute tanzten und ihm die Tränen in die Augen trieben.

Draußen in der großen Höhle angekommen, ging Graves noch ein Dutzend Schritte weiter, bevor er anhielt und auf Tom wartete, der gewisse Schwierigkeiten damit hatte, sich mitsamt seinem gewaltigen Rucksack durch die schmale Öffnung im Fels zu quetschen, dabei die beiden Gewehre zu tragen und gleichzeitig auch noch seine Lampe zu entzünden. Irgendwie brachte er es schließlich doch fertig, kam dabei jedoch aus dem Takt und wäre um ein Haar gestürzt, was ihm einen weiteren zornigen Blick von Graves eintrug.

»Ich hatte Recht!«, wandte sich Graves in triumphierendem Ton an Mogens. »Großer Gott, Mogens - ich hatte von Anfang an Recht!«

Mogens suchte vergeblich nach einer Antwort, die auch nur entfernt dazu geeignet schien, das Durcheinander von Gefühlen, Gedanken und Empfindungen zu beschreiben, das hinter seiner Stirn tobte, doch Miss Preussler kam ihm auch diesmal zuvor.

»Wagen Sie es nicht, den Namen des HERRN in den Mund zu nehmen, an einem solchen Ort!«, sagte sie empört.

»Aber Miss Preussler, ich bitte Sie!«, antwortete Graves. Er drehte sich so zu ihr herum, dass der grelle Lichtstrahl aus seiner Lampe direkt in ihr Gesicht fiel und sie geblendet die Augen schloss. Bevor er weitersprach, senkte er die Lampe hastig um ein kleines Stück. »Miss Preussler, bitte glauben Sie mir, das hier hat rein gar nichts mit Gott oder dem Teufel zu tun. Und schon gar nicht mit Gotteslästerung.«

»Wagen Sie es nicht...!«, begann Miss Preussler erneut, doch diesmal wurde sie von Mogens unterbrochen.

»Ich fürchte, ich muss Doktor Graves Recht geben«, sagte er.

Miss Preussler drehte sich ganz langsam zu ihm herum, und ein Ausdruck ungläubigen Staunens erschien in ihren Augen. Mogens fuhr jedoch in unverändertem Ton und mit einem bekräftigenden Kopfschütteln in Richtung der Höhle fort, aus der sie gerade gekommen waren: »Ich kann verstehen, wie sehr Sie das erschreckt haben muss, was wir gerade gesehen haben. Bitte, glauben Sie mir, mir erging es nicht anders. Und doch fürchte ich, befinden Sie sich diesmal im Irrtum. Das dort hatte nichts mit Zauberei oder dem Werk des Teufels zu tun.« Aber stimmte das wirklich? Mogens war beinahe erstaunt über die Ruhe und sichere Überzeugungskraft, die aus seiner Stimme sprach. Und doch: Was er sagte, das war nicht wirklich das, was er empfand. Natürlich war es der Wissenschaftler in ihm, der diese Worte sprach. Er war nicht nur von ihrer Wahrhaftigkeit überzeugt, er wusste, dass es so war. Und doch war da zugleich auch noch eine andere, leise und doch viel eindringlichere Stimme, die nicht den logischen Teil seines Verstandes ansprach, sondern etwas viel Älteres und Mächtigeres.