Er ging nicht zu Miss Preussler zurück, sondern wartete, bis sie zu ihm aufgeschlossen hatte und wollte weitergehen, doch Graves wedelte noch einmal mit der Hand und sagte: »Bitte entzündet die Lampen. Wir sind jetzt gleich da.«
Miss Preussler gehorchte sofort, und auch Mogens versuchte es, aber er stellte sich dabei so ungeschickt an, dass Tom es schließlich aufgab und zurückkam, um ihm zu helfen. Das fast unmerkliche Zischen der Grubenlampen vereinigte sich zu einem hellen Wispern, das von den verzierten Wänden aufgenommen wurde und uralte, verbotene Geschichten erzählte, auf die irgendetwas aus der Dunkelheit heraus zu antworten schien.
»Danke«, sagte Mogens, als Tom ihm die Lampe reichte. Tom nickte wortlos und schickte eines seiner üblichen, jungenhaften Lächeln hinterher, aber Mogens meinte trotzdem, eine gewisse Anspannung in ihm zu fühlen und einen Ernst, den er zuvor nur ein einziges Mal an ihm bemerkt hatte: damals, als er vom Tod seiner Eltern berichtete.
Tom hielt ihm auch das zweite Gewehr hin, aber Mogens schüttelte fast erschrocken den Kopf und konnte sich gerade noch beherrschen, nicht ein Stück zurückzuweichen. Er verabscheute Waffen noch immer genauso wie vor zehn Minuten, und darüber hinaus war er sicher, dass der Junge mit dem Gewehr deutlich besser umgehen konnte als er.
»Wie Sie meinen, Professor«, sagte Tom achselzuckend. »Bleiben Sie einfach hinter mir. Ich passe schon auf Sie auf.«
»Sollen wir jetzt ein paar Schritte zurückbleiben, oder dicht hinter Ihnen?«, fragte Miss Preussler stirnrunzelnd, nachdem sie sich herumgedreht hatte und wieder an Graves' Seite getreten war. Graves schoss einen ärgerlichen Blick über die Schulter in ihre Richtung zurück, zuckte knapp mit den Achseln und ging dann weiter.
Sie waren nicht mehr allzu weit vom Ende des Ganges entfernt. Das vereinigte Licht ihrer Lampen fiel bereits auf die Schutthalde und verlor sich in der Schwärze der Tempelkammer dahinter. Mogens wartete darauf, dass der Anblick Erinnerungen an die zurückliegende Nacht weckte, doch alles, was er spürte, war eine stärker werdende Furcht. Er erinnerte sich immer noch nicht, was er hinter dem offen stehenden Tor gesehen hatte - nur, dass es durch und durch grässlich gewesen war.
Unbeschadet ihrer eigenen Worte ging Miss Preussler etwas langsamer, sodass der Abstand zwischen Graves und ihnen wieder größer wurde, und als sie weitersprach, wusste Mogens auch, warum. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, was allerdings nicht viel nutzte; die verzierten Wände fingen jeden Laut auf und warfen ihn zischelnd verstärkt und verzerrt zurück: die Stimme der bösen Hexe aus dem Märchen, die die Kinder in die offen stehenden Tür des Backofens lockt.
»Wie konnte ein so netter, junger Mann wie Sie nur an jemandem wie Doktor Graves geraten?«, fragte sie.
»Wir waren einmal...«, begann Mogens ganz automatisch, brach aber dann ab und schwieg einen Moment nachdenklich. Um ein Haar hätte er Freunde gesagt, aber das Wort wollte ihm einfach nicht über die Lippen, und das lag nicht nur an den vergangenen neun Jahren. Miss Preussler sah ihn fragend und auf eine ganz besondere Art an, und schließlich fuhr er mit einem angedeuteten Achselzucken fort: »Studienkollegen.«
»An der Universität, nehme ich an«, sagte Miss Preussler.
Graves warf ihr im Gehen einen unverhohlen verächtlichen Blick über die Schulter hinweg zu, den Miss Preussler so wenig übersah, wie er ihre Worte überhört hatte. Von seiner ungewohnten Sanftmütigkeit und Ruhe war nichts mehr geblieben. Der Moment, in dem sie in der Höhle gestanden und dem faszinierenden Tanz der Sternbilder zugesehen hatten, hatte sie beide für einen kurzen Augenblick verändert; vielleicht hatte er sowohl in Mogens als auch in Graves etwas geweckt, was bisher sogar von ihnen selbst unerkannt geschlummert hatte. Aber nun war er vorbei, und sie fielen beide wieder in ihre gewohnten Verhaltensmuster zurück. Seltsamerweise beruhigte dieser Gedanke Mogens eher, statt ihn zu stören.
»Lassen Sie mich raten, Professor«, fuhr Miss Preussler fort. Sie hatte natürlich genau wie er bemerkt, wie sinnlos es war, zu flüstern, und dass Graves ihre Worte trotzdem hörte, ja, wie es aussah, sogar konzentriert darauf lauschte. Es schien sie jedoch nicht zu stören, denn sie sprach in ganz normalen Tonfall und Lautstärke weiter. Jetzt schien die sonderbare Akustik dieses Ganges ihre Worte jedoch eher zu dämpfen. »Es hat mit dieser Frau zu tun, von der Sie mir erzählt haben.«
Graves beließ es jetzt nicht mehr bei einem schrägen Blick über die Schulter zurück, sondern drehte mit einem Ruck Kopf und Oberkörper, sodass sein Scheinwerferstrahl für einen Moment einen wütenden Tanz über Wände, Decke und Boden vor ihm aufführte, und funkelte Mogens fast hasserfüllt an, enthielt sich aber auch jetzt jeden Kommentars und wandte sich nach einer weiteren Sekunde wieder um.
»Janice, ja«, antwortete Mogens leise. »Aber nicht so, wie Sie vielleicht meinen, Miss Preussler.«
Er hatte nicht mit diesem Tiefschlag gerechnet, aber sie verzichtete darauf, nachzuhaken, wofür ihr Mogens im Stillen sehr dankbar war, und so fuhr er - obwohl er es eigentlich gar nicht vorgehabt hatte - fort: »Es war eine schreckliche Geschichte. Ich möchte nicht darüber reden, nur so vieclass="underline" Sie ist damals ums Leben gekommen. Durch meine Schuld. Allein meine Schuld.«
Er musste sie nicht einmal ansehen, um zu spüren, wie wenig sie ihm diese Version glaubte. Miss Preussler war weder dumm noch unsensibel; beide Attribute hatte er im Zusammenhang mit ihr in Gedanken - und nicht nur da - in den letzten Jahren großzügig und oft verwendet, aber ihm war längst klar geworden, wie bitter Unrecht er ihr damit getan hatte. Sie war weder das eine noch das andere. Ganz im Gegenteil. Wenn auch auf eine Art, zu der er erst jetzt ganz allmählich Zugang fand, und innerhalb der festen Regeln einer kleinen, scharf umrissenen Welt, war sie doch im Grunde eine sehr kluge und äußerst warmherzige Person, selbst wenn sie von einer Sekunde auf die andere zur Furie werden konnte.
»Falls wir diese Nacht überleben, Professor«, sagte sie, »dann müssen wir beide uns unterhalten.«
»Woran ich immer größere Zweifel habe«, fügte Graves gehässig und in einer Lautstärke, die eingedenk seiner eigenen Worte geradezu absurd schien, hinzu. »Ich verderbe euch beiden Turteltäubchen ja nur ungern den Moment eurer großen Versöhnung, aber ich würde euch dennoch dringend bitten, jetzt endlich die Klappe zu halten!«
Die letzten Worte hatte er beinahe geschrien. Miss Preussler blinzelte nur und sah ihn konzentriert an. Sie sagte nichts mehr, was nach Mogens' Einschätzung aber weniger an Graves' scharfem Ton lag, als vielmehr daran, dass sie es für einfach unter ihrer Würde hielt, auf ein derartiges Benehmen überhaupt zu reagieren, während Mogens ein erschrockenes Gesicht machte und für einen Sekundenbruchteil innehielt. Graves nickte zufrieden, machte ein grimmiges Gesicht und setzte seinen Weg mit stampfenden Schritten fort.
Seine Zufriedenheit war jedoch fehl am Platze; auch Mogens' Reaktion war keineswegs darauf zurückzuführen, dass er ihn eingeschüchtert hätte - das konnte er schon lange nicht mehr -, vielmehr hatte er am Rande seines Scheinwerferstrahles für einen kurzen Moment etwas aufblitzen sehen. Janice war natürlich nur für ihn wirklich zu sehen, und sie war auch nicht wirklich da - zum allerersten Mal war er sich dieses Umstandes vollkommen bewusst -, aber er wusste zugleich auch, dass sie irgendwo in den Schatten dort vorne auf ihn wartete. Und - und auch das zum allerersten Mal - dieser Gedanke hatte plötzlich rein gar nichts Erschreckendes oder Furchteinflößendes mehr, sondern ganz im Gegenteil etwas zutiefst Beruhigendes.
»Was für ein unmöglicher Mensch«, sagte Miss Preussler schließlich; gerade so leise, dass Graves die Worte hören musste, aber nicht sicher sein konnte, ob er es auch sollte. Diesmal reagierte er auch nicht darauf, sondern beschleunigte ganz im Gegenteil seine Schritte noch einmal, bis er den Trümmerberg erreicht hatte und stehen blieb. Tom setzte dazu an, ihn unverzüglich zu erklimmen, doch Graves hielt ihn mit einer entsprechenden Bewegung zurück und winkte Mogens und Miss Preussler zugleich mit dem anderen Arm zu, rascher zu ihnen aufzuschließen. »Bitte verzeihen Sie meinen groben Ton«, sagte er, als sie neben ihm angelangt waren. »Ich bin wohl... ein bisschen nervös.«