Miss Preussler musterte ihn ausdruckslos und dachte gar nicht daran, ihm in irgendeiner Form Absolution zu erteilen.
»Wir sollten jetzt leise sein«, fuhr Graves in leicht verschnupftem Tonfall, tatsächlich aber nun flüsternd, fort. »Und sehr vorsichtig.«
»Glauben Sie, dass Sie das da«, Miss Preussler deutete mit einer Kopfbewegung auf das Gewehr in Graves' linker Armbeuge, »wirklich brauchen?«
»Ich hoffe nicht«, antwortete Graves. »Ich fürchte sogar, wenn wir es brauchen, wird es uns nicht mehr viel nutzen.« Er schüttelte trotzig den Kopf. »Aber sicher ist sicher, nicht wahr?«
»Nicht wahr«, bestätigte Miss Preussler. Mogens hatte alle Mühe, ein Grinsen zu unterdrücken. Miss Preussler war wirklich in jeder Situation für eine Überraschung gut.
Graves schien diese Antwort nicht im Geringsten komisch zu finden. Er war jedoch - ausnahmsweise - klug genug, nichts darauf zu erwidern, sondern sah Miss Preussler ganz im Gegenteil plötzlich sehr ernst und voller echter Sorge an. »Das ist jetzt unwiderruflich der letzte Moment, es sich noch einmal zu überlegen, Ma'am«, sagte er. »Noch können Sie kehrt machen. Sie müssen den Weg nur zurückgehen und kommen automatisch wieder zum Ausgang.«
»Haben Sie Probleme mit Ihrem Gehör, Doktor?«, antwortete Miss Preussler mit einem liebenswürdigen Lächeln. »Ich dachte doch, ich hätte mich klar genug ausgedrückt.«
»Wenn wir jetzt weitergehen«, antwortete Graves ungerührt, »können wir vielleicht nicht mehr umkehren.«
Statt ihm zu antworten, maß ihn Miss Preussler nur noch einmal mit einem langen, ganz offen verächtlichen Blick, dann raffte sie ihren Rock, drehte sich auf dem Absatz herum und begann mit erstaunlichem Geschick die Schutthalde hinaufzusteigen.
Graves starrte sie einen Herzschlag lang verblüfft an und versuchte dann den Arm auszustrecken, um sie zurückzuhalten, doch Miss Preussler hatte nicht nur bereits die Hälfte der aus Schutt und Trümmern bestehenden Halde erklommen, sie überraschte sie alle auch ein weiteres Mal. Als sie gerade so weit war, dass sie von der anderen Seite aus sichtbar geworden wäre, ließ sie sich auf Hände und Knie herabsinken und kroch das allerletzte Stück des Weges auf allen vieren. Oben angekommen, legte sie sich flach auf den Bauch und spähte aufmerksam und vollkommen reglos über den Rand ihrer Deckung hinweg; wäre sie hundert Pfund leichter gewesen, hätte man sie für einen Indianer halten können, der sich im Gebüsch anpirscht, um einen Hinterhalt für die weißen Eindringlinge zu legen.
Mogens schenkte Graves einen fast triumphierenden Blick, auf den dieser jedoch nur mit einem Ausdruck noch größerer Sorge reagierte. »Das gefällt mir nicht«, flüsterte er. »Es könnte wirklich gefährlich werden, weißt du?« Er machte eine Bewegung mit dem Gewehr. »Ich habe das ernst gemeint. Wenn wir die Dinger brauchen, dann werden sie uns vielleicht nicht mehr viel nutzen.«
»Warum schleppen wir sie dann mit?«, fragte Mogens.
»Weil wir... ach, vergiss es!« Graves machte mit einem Ruck auf dem Absatz kehrt und folgte Miss Preussler - schneller und auf eine Art, die auch noch Mogens' letzte Zweifel daran beseitigten, dass er so etwas nicht zum ersten Mal tat, aber kein bisschen leiser als sie. Ganz im Gegenteil ließ er sich erst sehr viel später auf alle viere hinab, sodass die Gefahr, von der anderen Seite aus gesehen zu werden, viel größer war. Mogens sah ihm kopfschüttelnd nach, doch dann machte Tom eine auffordernd-ungeduldige Handbewegung, und auch er begann den Trümmerberg zu erklettern. Tom bildete den Abschluss, und nur wenige Augenblicke später lagen sie nebeneinander auf dem Kamm der Schutthalde, wie vier ungleiche Soldaten, die aus ihrem Schützengraben herausspähten und mit klopfendem Herzen nach ihrem Feind Ausschau hielten.
Auf der anderen Seite war jedoch - zumindest im ersten Moment - rein gar nichts zu sehen. Sowohl Graves als auch Tom hatten ihre Scheinwerferstrahlen direkt in die große Tempelkammer gerichtet, doch das weiße Licht schien mit jedem Meter, den es zurücklegte, mehr an Substanz und Leuchtkraft zu verlieren; als fiele es nicht in einen leeren Raum, sondern in das schwarze Wasser auf dem tiefsten Grund der Ozeane, in dem es keine Existenzberechtigung mehr hatte und keine Macht. Nur hier und da tauchte ein Umriss aus der Schwärze auf, der sich jedoch beharrlich weigerte, einen Sinn oder gar eine vertraute Form zu ergeben. Hier ein Trümmerstück, das aus dem einzigen Grund da war, die Vergänglichkeit alles von Menschen Geschaffenem zu demonstrieren und die Sinnlosigkeit all ihren Bemühens, sich gegen dieses Urgesetz des Universums aufzulehnen. Da die zerbrochene Hälfte einer Götterstatue, halb Mensch, halb Vogel, deren halbierter Blick höhnisch und warnend zugleich war. Dort ein heruntergefallenenes Stück der Wandverkleidung, auf dem sich zerbrochene Hieroglyphen zu einem neuen, finsteren Sinn gruppiert hatten. Erst, als auch Miss Preussler und als Letzter Mogens selbst ihre Lampen hoben und in die Schwärze hineinrichteten, wurde es ein wenig besser.
Dennoch erschrak Mogens bis ins Mark. Er war selbst hier gewesen, als die Katastrophe die Tempelkammer traf und in einer einzigen Sekunde zerstörte, was annähernd fünf Jahrtausende überdauert hatte, und doch hatte er das Ausmaß der Verheerung nicht einmal annähernd so groß in Erinnerung. Säulen waren umgestürzt und zerborsten, prachtvolle Götterstatuen und Standbilder von ihren Sockeln gestürzt und in Stücke gebrochen. Ganze Abschnitte der Wandverkleidung waren heruntergefallen und zu unansehnlichen Schutthalden am Fuße schwarzgrauer Felswände geworden, und der ehemals grandiose Mosaikfußboden hatte sich in den Grund eines ausgetrockneten, seit einem Jahrhundert von der Sonne verbrannten Sees verwandelt, der von einem Labyrinth haarfeiner bis handbreiter klaffender Risse und Spalten durchzogen wurde.
Graves und Tom schwenkten ihre Scheinwerferstrahlen langsam und methodisch hin und her. Obwohl die Lampen sehr stark waren, reichte ihr Licht nicht, den ganzen Raum auszuleuchten, sehr wohl aber, Mogens zu zeigen, dass sich die Zerstörung nicht nur auf einen kleinen Bereich vor dem Eingang beschränkte, sondern im Gegenteil im hinteren Teil des Raumes noch größer zu sein schien. Er war jetzt sicher, diesen Raum das letzte Mal nicht in diesem Zustand gesehen zu haben, und nach einer Weile brachte er dies auch gegenüber Graves zum Ausdruck.
»Ich fürchte, du hast Recht«, sagte dieser. »Es muss zu einem weiteren Einsturz gekommen sein, seit wir das letzte Mal hier unten waren.«
Seiner Stimme war eine gewisse Sorge anzuhören, die wohl aber eher der Standfestigkeit des Bodens galt, der vor ihnen lag, und möglicherweise den hunderttausend Tonnen Fels, die über ihren Köpfen hingen; keine Spur von dem Bedauern, das Mogens empfand. Es war noch nicht lange her, da war dieser Raum mit all seinen Wundern und uralten Schätzen und Kostbarkeiten vollkommen unversehrt gewesen: ein Fund, der nicht nur die Geschichte der Archäologie revolutioniert hätte, sondern für Mogens auch einem Geschenk Gottes gleichkam. Nun war hier alles zerstört. Bedachte man, wie wenig Hinterlassenschaften es aus dem Jahrtausende währenden Reich der Pharaonen noch gab, stellte selbst diese verwüstete Kammer noch einen ungeheuerlichen Schatz dar; aber sie war nicht mit dem zu vergleichen, was er noch vor zwei Tagen mit eigenen Augen gesehen und zum Teil in den Händen gehalten hatte. In das Bedauern, das Mogens verspürte, mischte sich Zorn. Ein Zorn, der kein wirkliches Ziel hatte, vielleicht gerade deshalb aber umso schlimmer war. Warum machte ihm das Schicksal ein solches Geschenk, um es ihm dann sofort wieder wegzunehmen?