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»Hier ist ein Knick«, sagte er. »Danach wird es viel einfacher. Vielleicht, wenn Miss Preussler als Erste...?«

»Wenn sie es denn wirklich will...«, sagte Graves.

Miss Preussler streifte ihn nur mit einem verächtlichen Blick, drehte sich um und ließ sich schnaufend auf Hände und Knie hinabsinken, dann begann sie mit dem rechten Bein nach unten zu tasten. Mogens wusste nicht, wie und vor allem wo Tom sie festhielt - und er wollte es auch gar nicht so genau wissen -, aber irgendwie gelang es ihm wohl, denn als Graves und er nach ihren ausgestreckten Armen griffen und sie festhielten, sank sie nur ganz allmählich in den Schacht hinab; auch wenn Mogens dabei das Gefühl hatte, dass ihm die Arme aus den Schultergelenken gerissen wurden. Sie hörten Tom ächzen, dann jedoch rief er: »Alles klar. Sie können loslassen.«

Mogens gehorchte nur zu gern. Die Schnittwunden in seiner Seite pochten wie wild, als er erschöpft die Arme sinken ließ und zurücktrat, und er spürte etwas Nasses und Warmes an seiner Brust hinunterlaufen. Mindestens einer der kaum verheilten Risse war wieder aufgebrochen. Es tat höllisch weh.

Graves betrachtete ihn einen Moment kritisch. »Schaffst du es noch?«, fragte er.

»Bestimmt«, antwortete Mogens kurzatmig. »Ich brauche nur... einen Augenblick...«

Graves schien dazu seine eigene, etwas andere Meinung zu haben, aber er beließ es bei einem wortlosen Achselzucken und begann auf die gleiche Weise wie Miss Preussler zuvor in den Schacht hinunterzusteigen. Nur deutlich schneller.

Als er sich an dem rauen Felsen festklammerte, verrutschte einer seiner Handschuhe. Nicht sehr weit, und auch nur für einen ganz kurzen Moment, sodass Mogens nur einen einzelnen Blick darunter werfen konnte.

Doch das war schon eindeutig mehr, als er eigentlich wollte.

Er konnte nicht einmal genau sagen, was er sah. Keine Haut, und ganz sicher auch kein menschliches Fleisch. Der schwarze Handschuh rollte ein Stück nach oben, wie eine Wurstpelle, die man nach dem Kochen abzieht, und darunter kam etwas Weißes, Wimmelndes zum Vorschein, wie Bündel glänzender, ineinander gedrehter, pulsierender Nervenfäden.

Bevor Mogens genauer hinsehen konnte, verschwand Graves' Hand in der Tiefe, und er war allein.

Sein Herz jagte. Nachdem Graves fort war, hatte er nur noch eine einzige Lampe, die eigentlich ausreichen sollte, den kleinen Raum hinlänglich zu erhellen, es aber einfach nicht tat. Die Dunkelheit stürmte aus allen Richtungen zugleich auf ihn ein und nahm ihm nicht nur die Sicht, sondern in zunehmendem Maße auch den Atem.

»Komm, Mogens!« Graves' Stimme drang so hohl und verzerrt wie aus einem unendlich tiefen, hallenden Schacht zu ihm herauf, von den Echos zu etwas gemacht, das seiner Furcht noch zusätzliche Nahrung gab. »Tom hat Recht. Hier unten wird es leichter. Bring sein Gewehr mit!«

Mogens nahm mit spitzen Fingern die Büchse von der Wand und reichte sie Graves in die Tiefe hinab, bevor er sich ebenfalls auf Hände und Knie sinken ließ und dann rücklings in den Schacht zu klettern begann. Er rechnete damit, dass Tom oder Graves ihm halfen, wie sie es bei Miss Preussler getan hatten, aber deren Stimmen entfernten sich eher unter ihm, und eingedenk der unheimlichen, Übelkeit erregenden Geometrie dieses Schachtes, die er vorhin gesehen hatte, wagte er es nicht, nach unten zu blicken, sondern kletterte Hand über Hand und mit fest zusammengepressten Augenlidern, bis er endlich wieder festen, wenn auch leicht abschüssigen Boden unter den Füßen spürte.

»Gib acht, Mogens«, sagte Graves' Stimme hinter ihm. »Pass auf deinen...«

Mogens drehte sich mit immer noch geschlossenen Augen herum, richtete sich mit einem erleichterten Seufzen auf und knallte so hart mit dem Schädel gegen den Fels, dass er Sterne sah.

»... Kopf auf«, schloss Graves. Mogens war sicher, sich den schadenfrohen Unterton in seiner Stimme nicht nur einzubilden.

Stöhnend hob er die Hand an den Kopf, fuhr sich mit den gespreizten Fingern durch das Haar und spürte zu seiner eigenen Überraschung zwar kein Blut, dafür aber einen so heftig pochenden Schmerz, dass ihm übel wurde.

»Mach dir nichts draus«, sagte Graves fröhlich. »Das ist uns allen passiert.«

Mogens konnte nicht wirklich erkennen, was daran so komisch sein sollte, doch dann öffnete er endlich die Augen, blickte in Graves' grinsendes Gesicht und legte dann den Kopf in den Nacken. Verblüfft riss er die Augen auf.

»Habe ich Ihnen schon gesagt, dass Sie ein unmöglicher Mensch sind, Doktor Graves?«, fragte Miss Preussler.

»Mehrmals, meine Liebe«, antwortete Graves. »Mehrmals.«

Mogens hörte kaum hin, denn was er sah, das war so verblüffend und unmöglich zugleich, dass er selbst den pochenden Schmerz unter seiner Schädeldecke für einen Moment einfach vergaß. Der Gang, in dem sie sich befanden, bestand aus dem gleichen glänzend schwarzen Gestein wie der Raum hinter dem Tor, und seine Decke befand sich mindestens zwei Meter über ihren Köpfen. Aber als er den Arm ausstreckte, stießen seine Finger fast unmittelbar auf harten Widerstand.

»Aber das ist doch... unmöglich«, murmelte er. Es war nicht so, dass er auf ein unsichtbares Hindernis gestoßen wäre, nein, er konnte sehen, wie seine Fingerspitzen den Fels zwei Meter über seinem Kopf berührten, obwohl er den Arm noch nicht einmal halb ausgestreckt hatte!

»Interessant?«, fragte Graves. Seine Stimme war von einem absurden Stolz erfüllt.

»Ich finde es eher erschreckend«, sagte Miss Preussler. »Mit diesem Ort stimmt etwas nicht.«

»Ich denke eher, dass mit unseren Sinnen etwas nicht stimmt«, antwortete Graves.

»Vielleicht mit den Ihren, Doktor«, versetzte Miss Preussler spitz.

»Nein, nein«, beharrte Graves. »Ich meine das ernst, meine Liebe. Mit diesem Ort ist alles in Ordnung. Ich vermute, dass unsere unzulänglichen menschlichen Sinne mit seiner Geometrie nichts anfangen können.«

»Was für ein fürchterlicher Unsinn!«, sagte Miss Preussler.

Graves schüttelte lächelnd den Kopf. »Ganz wie Sie meinen«, sagte er. »Aber bis wir eine bessere Erklärung gefunden haben, sollten wir uns dennoch darauf einigen, unseren Sinnen nicht mehr vollkommen zu vertrauen.«

Mogens folgte dem albernen Disput der beiden nur mit halbem Ohr. Gerade nach dem, was er vorhin mit eigenen Augen gesehen hatte, tendierte er stark dazu, Graves Recht zu geben. Er verstand nur nicht, wie Graves das Kunststück fertig brachte, etwas so ganz und gar Unvorstellbares mit einer solchen Gelassenheit auszusprechen. Zögernd hob er noch einmal den Arm und registrierte mit kein bisschen weniger Verblüffung als beim ersten Mal, wie seine Fingerspitzen gegen rauen Widerstand stießen, obwohl er keinerlei perspektivische Verzerrung oder irgendeinen anderen Hinweis auf eine optische Täuschung gleich welcher Art erkennen konnte. Es war ein zutiefst verstörender Anblick.

»Aus diesem Grund wollt ich auch kein Seil benutzen«, sagte Tom. »Ich war nicht ganz sicher, woran ich es festbinden sollte.«

»Also hast du dich lieber auf das verlassen, was dir dein Tastsinn verraten hat«, fügte Graves mit einem anerkennenden Nicken hinzu. »Das war sehr klug von dir, Tom.«

Tom lächelte geschmeichelt, und auch Mogens musste die Voraussicht des Jungen anerkennen; zugleich aber war an dem, was er gesagt hatte, zwar nichts auszusetzen, aber irgendetwas, was ihn störte.

»Gehen wir weiter«, schlug Graves vor. »Vorsichtig.«

Er selbst ging - wortwörtlich - mit gutem Beispiel voran, denn er wandte sich zwar um und ging mit festen, ruhigen Schritten los, hielt aber die linke Hand mit dem Gewehr sichernd vor und ein Stück über den Gesicht, die andere, die die Lampe hielt, weit nach vorne ausgestreckt, wie ein Blinder, der sich behutsam in einem ihm vollkommen unbekanntes Zimmer vorantastete. Zugleich ging er eigentlich nicht im klassischen Sinne, sondern ließ die Füße vor sich über den Boden schleifen, als misstraue er auch der Festigkeit des scheinbar massiven Felsens. Es sah einigermaßen albern aus, aber schon nach wenigen Schritten sah Mogens den Sinn dieser übertrieben erscheinenden Vorsichtsmaßnahme ein. Graves' tastend vorgestreckte Hand prallte so unsanft gegen einen Felsvorsprung, der noch meterweit entfernt schien, dass die Lampe scheppernd hin und her schaukelte und für einen Moment zu erlöschen drohte. Nur einen Moment später stolperte er über eine Unebenheit im Boden, die Mogens einen Lidschlag zuvor noch nicht einmal gesehen hatte, und auch ihm und den beiden anderen erging es nicht viel besser. Trotz aller Vorsicht stießen sie sich mehrmals hart und schmerzhaft an Felsen, die sie regelrecht anzuspringen schienen, und einmal wäre Mogens fast gestürzt, als er sich auf einem Vorsprung abzustützen versuchte, der ungleich weiter entfernt war, als es aussah.