»Das Licht«, sagte er. »Löscht eure Lampen.«
Mogens war nicht wohl dabei, und er sagte es auch. »Und was, wenn diese Bestien irgendwo hier auf uns lauern?«
»Dann locken wir sie mit unseren Lichtern allerhöchstem an«, antwortete Graves. »Darüber hinaus bin ich davon überzeugt, dass sie im Moment anderweitig beschäftigt sind.«
»Darf ich auch fragen, womit?«
»Sicher dürfen Sie das, mein lieber Professor«, antwortete Graves ironisch und löschte seine Laterne.
Mogens tat es ihm gleich und verbiss es sich, noch einmal nachzuhaken. Irgendwie war ihm Graves beinahe sympathischer gewesen, als er sich noch wortkarg und hochnäsig gegeben hatte. Nachdem auch Tom und Miss Preussler ihre Laternen gelöscht hatten, wurde es für einen Moment dunkel, allerdings wirklich nicht für sehr lange. Schon nach zwei oder drei Sekunden begann Graves' Gestalt als zerfaserter Schemen wieder vor ihm aus der Dunkelheit aufzutauchen, eingefasst von einem blassgrünen, seltsam unwirklichen Schein. Zögernd ging er weiter und blieb unmittelbar neben Graves wieder stehen. Nur ein paar Schritte vor ihnen gähnte ein kaum meterhoher, aber mehr als zehnmal so breiter Spalt in der Felswand, bei dessen Anblick Mogens unwillkürlich an das grinsende Maul eines Drachen denken musste. In dem mattgrünen Schein dahinter schien sich etwas zu bewegen, aber Mogens konnte nicht sagen, was.
»Du warst schon einmal hier unten«, vermutete er.
»Keineswegs«, antwortete Graves. »Aber es ist eine einfache logische Schlussfolgerung, dass es hier unten Licht geben muss. Diese Kreaturen mögen sehr empfindliche Augen haben, aber sie haben Augen. Würden sie in absoluter Dunkelheit leben, brauchten sie die nicht.«
Er ging weiter. Unendlich behutsam - und mit einer Bewegung, aus der deutlich mehr Furcht sprach, als ihm vermutlich selbst bewusst war - ließ er sich vor dem Spalt in die Hocke sinken und spähte hindurch. »Alles ruhig«, sagte er. »Ihr könnt kommen.«
Er wartete ihre Reaktion auch diesmal nicht ab, sondern bückte sich mit einer unerwartet raschen Bewegung unter dem überhängenden Felsen hindurch und richtete sich drüben wieder auf. Die Barriere war nicht besonders dick - weniger als einen halben Meter, schätzte Mogens -, sodass er eigentlich weiter hätte sichtbar bleiben müssen. Seine Gestalt schien sich jedoch in dem blassgrünen Schein auf der anderen Seite einfach aufzulösen, wie die eines Schwimmers, der in ein Becken mit vollkommen veralgtem Wasser tauchte.
»Jonathan?«, fragte Mogens alarmiert.
Er bekam keine Antwort, sodass er sich dicht vor dem Spalt in die Hocke sinken ließ und konzentriert hindurchspähte. Er glaubte einen Schatten zu erkennen, war aber nicht sicher.
»Graves?«, fragte er noch einmal, und jetzt gab er sich gar keine Mühe mehr, den besorgten Ton in seiner Stimme zu unterdrücken.
Etwas scharrte, und dann hörte er Graves' halb erstickte, qualvolle Stimme: »Mogens - in Gottes Namen, hilf mir!«
Mogens bückte sich hastig unter dem Fels hindurch und sprang auf der anderen Seite so hastig wieder auf, dass er sich abermals den Schädel anschlug und die Bewegung nicht zu Ende führte, sondern mit zusammengebissenen Zähnen gleich wieder auf die Knie sank.
»Ich wusste, dass es funktioniert«, sagte Graves feixend. »In dir steckt eben doch ein guter Kerl.«
Mogens musste die finsteren Blicke nicht spielen, mit denen er Graves maß, während er aufstand und sich zugleich den schmerzenden Schädel rieb. »Ich spare es mir, dir zu sagen, was in dir steckt, meiner Meinung nach.«
»Sehr vernünftig«, antwortete Graves. Dann erlosch sein Grinsen wie abgeschaltet. »Pass auf, Mogens. Wir können uns keine Verletzungen leisten.«
Mogens vergaß alles, was er Graves hatte sagen wollen, als er sich aufrichtete und sein Blick an ihm vorbei fiel.
Hinter und unter Graves erstrecke sich eine gewaltige Höhle, deren Dimensionen nicht nur seine Vorstellungskraft sprengten, sondern auch schlichtweg seine Sinne überforderten. Er war nicht einmal sicher, ob es sich tatsächlich noch um eine Höhle handelte oder nicht vielmehr um etwas, wofür man eigentlich ein eigenes Wort hätte erfinden müssen.
Der Raum war schlichtweg gigantisch. Der höchste Punkt des gewaltigen, steinernen Firmaments musste sich eine viertel Meile, wenn nicht mehr, über ihren Köpfen befinden, und seine Ausdehnung wagte Mogens nicht einmal zu schätzen. Die Entfernung zwischen hier und dem gegenüberliegenden Ende des gewaltigen Felsendomes betrug sicherlich eine Meile, wenn nicht gar ein Mehrfaches. Und diese riesige, tief unter der Erde gelegenen Kammer - aber so tief konnte sie nicht sein, flüsterte eine leise, beruhigte Stimme irgendwo in Mogens' Hinterkopf; sie waren ein gutes Stück nach unten geklettert und auch der Schattengang und die anschließende Höhle hatten sie weiter abwärts geführt, aber nicht so weit - war nicht leer.
Unter ihnen erstreckte sich die bizarrste Stadt, die Mogens jemals gesehen hatte.
Im allerersten Moment hätte er nicht einmal sagen können, ob es sich tatsächlich um eine Stadt handelte, oder nur eine willkürliche Ansammlung sonderbar geometrischer Felsformen und -formationen, die sein wissenschaftlicher Verstand nur als eine solche deutete, um wenigstens den Anschein von Ordnung in das unvorstellbare Chaos dort unten zu bringen. Da waren riesige, bizarr verformte Gebilde, die aussahen wie lebende Dinge, die vielleicht einmal hatten Häuser werden wollen, aber auf halbem Wege dorthin zu sonderbar organischer Form erstarrt waren. Es gab Linien und Parallelen, die sich auf vollkommen unmögliche Weise bogen, verzerrten und schnitten, an Stellen endeten, wo sie es nicht hätten tun dürfen, oder sich in Winkeln berührten, die vollkommen unmöglich waren. Ein Großteil dieser bizarren Bauwerke schien zerstört und halb verfallen - auch wenn dies angesichts der vollkommen absurden Geometrie nur sehr schwer einzuschätzen war -, anderes machte den Eindruck, niemals wirklich zu Ende gebaut worden zu sein. Das Allerschlimmste aber war, dass Mogens trotz aller dieser Fremdartigkeit, trotz der Übelkeit erregenden, nichteuklidischen Geometrie, die ihr zugrunde lag, etwas auf schreckliche Weise Vertrautes in der Anlage dieser Stadt zu erkennen glaubte.
»Nun?«, flüsterte Graves neben ihm. »Habe ich dir zu viel versprochen, Mogens?«
Mogens konnte nicht antworten. Er konnte nicht einmal nicken. Obwohl ihn der Anblick dieser monströsen unterirdischen Stadt so sehr entsetzte wie selten etwas zuvor im Leben, obwohl ihr bloßes Dasein irgendetwas in ihm zu verletzen schien, sodass er sich wie ein getretener Wurm zu krümmen begann und lautlose Schmerzensschreie ausstieß, obwohl dieses grässliche Bild schlicht und einfach seine Menschlichkeit beleidigte, war es ihm zugleich auch unmöglich, sich seiner morbiden Faszination zu entziehen oder auch nur den Blick zu wenden. Er hörte, wie Tom hinter ihm durch den Felsspalt gekrochen kam und erschrocken die Luft ausstieß, als er des unglaublichen Anblicks gewärtig wurde, aber er war nicht imstande, auch nur irgendwie darauf zu reagieren. Das schreckliche Bild brannte sich wie Säure in seine Gedanken, und das Entsetzen, mit dem es ihn erfüllte, begann allmählich die Qualität eines echten, körperlichen Schmerzes anzunehmen und hielt ihn dennoch zugleich mit eiserner Kraft gefangen.
Erst, als Graves ihn am Arm berührte und ihm einen auffordernden Blick zuwarf, schrak er aus seiner Erstarrung hoch und drehte sich hastig herum. Hinter ihnen kroch als letzte nun auch Miss Preussler durch den Spalt im Fels, hatte aber sichtbare Schwierigkeiten, ihre Körpermasse durch die schmale Öffnung zu quetschen. Mogens und Graves taten ihr Möglichstes, um ihr behilflich zu sein, und es gelang ihnen auch, sie ins Freie zu ziehen, ohne dass sie sich mehr als ein paar harmlose Schrammen einhandelte - und vermutlich ein paar nicht ganz so harmlose in ihrem Stolz. Statt sich bei ihnen zu bedanken, schenkte sie jedenfalls zuerst Graves und dann auch Mogens einen vernichtenden Blick, warf mit einem Ruck den Kopf in den Nacken und drehte sich dann abrupt weg.