»Was für ein Unsinn«, antwortete sie.
Graves schoss einen ärgerlichen Blick in ihre Richtung, beließ es aber dann lediglich bei einem verächtlichen Verziehen der Lippen und fuhr, wieder an Mogens gewandt und im gleichen eifernden Ton fort: »Ich bin überzeugt davon, dass sie Recht hatten! Sie waren auf dem richtigen Weg, nur mit den falschen Mitteln.«
Mogens überlegte sich seine nächsten Worte sehr genau. Das Flackern in Graves' Augen hatte noch zugenommen, und auch der Ton, in dem er sprach, alarmierte ihn mehr und mehr. Ein falsches Wort mochte durchaus reichen, um eine Katastrophe heraufzubeschwören. »Ich habe mehr als eine Mumie mit eigenen Augen gesehen, Jonathan«, sagte er, wobei er ganz bewusst Graves' Vornamen benutzte. »Und glaub mir, ich habe in keiner einzigen davon irgendetwas Lebendes gefunden. Oder gar die Unsterblichkeit.«
»Weil du die falschen Mittel benutzt hast!« Graves machte eine Geste, als wolle er seine Worte körperlich beiseite fegen. »Ihr Ziel war richtig, aber der Weg war falsch. Und wie hätten sie es auch wissen sollen? Selbst ich habe es erst nach vielen Jahren und unzähligen bitteren Rückschlägen verstanden.«
»Wo du doch über so viel mehr Erfahrung verfügst als die ägyptischen Hohepriester, die nur dreitausend Jahre Zeit hatten, sich mit diesem Problem zu befassen«, sagte Mogens spöttisch.
»Sie waren Primitive, trotz allem«, behauptete Graves. »Primitive, die eine erstaunlich hohe Stufe der Kultur erklommen hatten, aber dennoch Primitive. Sie haben versucht, ein wissenschaftliches Problem mit Mitteln des Aberglaubens zu lösen. Sie mussten scheitern.«
»Während Sie versuchen, ein abergläubisches Problem mit Mitteln der Wissenschaft zu lösen«, sagte Miss Preussler. »Wie originell.«
Graves ignorierte sie weiter. »Dreitausend Jahre, Mogens«, sagte er begeistert. »Glaubst du wirklich, sie hätten all diese ungeheuerlichen Anstrengungen vollbracht ohne den geringsten Beweis?« Er schüttelte heftig den Kopf. »Ganz gewiss nicht, Mogens. Die Pharaonen wussten, dass ihre Götter existieren!«
»Ach?«, fragte Mogens. »Woher?«
»Weil sie sie gesehen haben«, antwortete Graves triumphierend. »Ebenso wie ich.«
»Du bist wahnsinnig«, murmelte Mogens.
»Wahnsinnig? So?« Graves lächelte das triumphierende, durch nichts zu erschütternde Lächeln eines Wahnsinnigen. »Und wenn ich einen Beweis hätte?«
»Einen Beweis«, wiederholte Mogens. »Und wie sollte der aussehen?«
»Es hat lange gedauert«, antwortete Graves, ohne damit wirklich zu antworten, »viel zu lange, aber am Ende habe ich es schließlich begriffen. Und weißt du, wo? An dem einzigen Ort auf der Welt, der dafür geschaffen ist.«
Er machte eine heftig wedelnde Handbewegung auf Tom, der an der Wand in die Hocke gesunken war und einfach zu erschöpft schien, um mit mehr als einem müden Blick darauf zu reagieren. »Tom und ich waren in Afrika. Wir standen im Schatten der großen Pyramide von Gizeh, als es mir endlich klar geworden ist.«
»Was?«, fragte Mogens. »Dass du den Verstand verloren hast? Großer Gott, sag mir nicht, dass wir hierher gekommen sind, um einem Hirngespinst hinterherzujagen«
»Dass wir an der falschen Stelle gesucht haben«, antwortete Graves ungerührt. »Es ist der Sirius, Mogens. Wusstest du, dass die Pyramiden von Gizeh exakt nach seiner Position ausgerichtet sind?«
»Nein«, antwortete Mogens. »Sind sie nicht. Diese Theorie wurde schon vor langer Zeit verworfen.«
»Weil sie allesamt Ignoranten sind!«, ereiferte sich Graves. »Es ist wahr, Mogens! Nicht nach dem Sirius von heute, sondern der Stelle, wo er vor mehreren tausend Jahren gestanden hat. Warum wohl nennt man den Sirius auch den Hundsstern? Die Dogon haben es erkannt, und die alten Ägypter auch! Ihre Götter waren keine Hirngespinste. Sie waren real, lebende Wesen wie du und ich, und sie kamen vom Sirius.«
Erschöpft brach er ab. Sein Blick wurde fordernd, und nur einen Moment später zornig, als er nicht die Reaktion bekam, auf die er wartete. Dennoch sagte er ruhig: »Du glaubst mir nicht.«
»Wie könnte ich auch«, antwortete Mogens. »Ich bin ja auch nur ein dummer Ignorant.«
»Ich werde es dir beweisen«, sagte Graves und begann langsam seine Handschuhe abzustreifen.
Miss Preussler stieß einen gellenden Schrei aus.
43.
Was unter Jonathans Handschuhen zum Vorschein gekommen war, waren keine Hände. Es war nicht einmal menschliches Fleisch. Als Graves das schwarze Leder endgültig abstreifte, da platzte etwas hervor, was vielleicht im allerersten Moment noch an die grässliche Verhöhnung einer menschlichen Hand erinnerte; pulsierende, ungleich lange Stränge nur losen weißen Bündeln zusammengedrehter, zuckender augenloser Würmer. Dann, noch bevor der Schrecken, der mit diesem fürchterlichen Anblick einherging, auch nur wirklich nach seinem Herzen greifen konnte, platzten sie mit einem widerlichen nassen Geräusch auseinander, wie eine Armee winziger, eigenständig denkende Kreaturen, die die Mauern ihres Gefängnisses gänzlich gesprengt hatten und der Freiheit entgegenstrebten. Wo Graves' Hände sein sollten, da wuchsen nun lange, peitschenden Bündel aus Millionen und Abermillionen dünner, nahezu farbloser zuckender Fäden, die hin und her wogten wie weißer Seetang in der Strömung eines unsichtbaren Ozeans.
»Graves - großer Gott!«, keuchte Mogens. »Was... was hast du getan?«
Miss Preussler stieß einen weiteren, wenngleich diesmal eher wimmernden Schrei aus und schlug die Hände vor den Mund, während Tom das, was aus Graves' Armen hervorgekrochen war, nur mit einem abgestumpftem Entsetzen betrachtete. Er genoss diesen grauenhaften Anblick sichtlich nicht zum ersten Mal.
»Du wolltest einen Beweis, Mogens«, sagte Graves. Er warf die Arme in die Luft, wie ein Marktschreier, der zwei Sträuße besonders exotischer Blumen anpries, und sprang zwei- oder dreimal wie irre auf der Stelle. Mogens war sicher, dass er die Schwelle zum Wahnsinn in diesem Moment eindeutig überschritten hatte. »Du wolltest einen Beweis?«, kreischte er noch einmal. »Da hast du ihn! Reicht dir das?«
»Ja«, murmelte Mogens entsetzt. »Das reicht mir.«
»Oh, ich verstehe«, antwortete Graves zu einem neuerlichen, irren Kichern. »Du hältst mich für verrückt, nicht wahr? Du glaubst, ich hätte den Verstand verloren, habe ich Recht?« Er schüttelte heftig den Kopf und warf noch einmal die schrecklichen Hände in die Höhe, dann - ganz plötzlich - fiel sein wahnwitziges Benehmen von ihm ab, wie ein Mantel, der seinen Dienst getan hatte, und den er nicht mehr benötigte. Vielleicht auch wie eine Maske. »War es das, was du sehen wolltest?«, fragte er kalt.
Weder registrierte Mogens die Worte wirklich, noch wäre er in der Lage gewesen, irgendwie darauf zu antworten. Sein Blick hing wie hypnotisiert an den schrecklichen, hin und her peitschenden Bündeln, in denen Graves' Arme endeten, und sein Entsetzen hatte einen Grad erreicht, der ihn nicht mehr lähmte, sondern etwas in ihm zum Sterben zu bringen schien.
»Tu das weg«, wimmerte er. »Tu das weg, Jonathan!«
Graves gab einen sonderbaren Laut von sich - vielleicht ein abfälliges Lachen, vielleicht aber das genaue Gegenteil.
Ganz langsam senkte er die Arme und hielt seine grässlichen Nicht-Hände vors Gesicht. Ein Ausdruck höchster Konzentration erschien auf seinen Zügen. Im allerersten Moment geschah nichts, dann jedoch änderte sich etwas in der bisher scheinbar willkürlichen Bewegung der peitschenden Fäden. Etwas wie ein Muster machte sich darin bemerkbar, langsam und nahezu widerwillig zuerst, aber zunehmend. Nach und nach begannen sich die einzelnen, zuckenden Nervenfäden wieder zusammenzufügen, bis sie etwas wie die klumpig verwachsene, böse Parodie einer menschlichen Hand zu bilden schienen. Der Anblick war auf seine Art beinahe noch grässlicher als vorher, als seine Finger auseinandergeplatzt waren; denn die Zerstörung von etwas Vertrautem war trotz allen Entsetzens, das sie begleiten mochte, noch immer leichter zu ertragen als der Anblick dieser grässlichen, durch und durch unmenschlichen... Dinge, die sich zu der höllischen Verhöhnung einer menschlichen Hand zusammenballten.