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Mogens ertrug den Anblick nicht länger als eine Sekunde, bevor er mit einem wimmernden Laut die Augen schloss. Aber es nutzte nichts. Er sah die grässlichen, peitschenden Stränge noch immer mit der gleichen Deutlichkeit vor sich. Er würde sie nie wieder vergessen können.

»Und das ist dein Beweis?«, hörte er sich selbst fragen. Es schien nicht einmal seine eigene Stimme zu sein, die diese Worte formte, denn er war im Augenblick gar nicht in der Lage, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen, geschweige denn einen zusammenhängenden Satz zu formulieren. »Wofür? Dass du schon vor langer Zeit und unwiderruflich wahnsinnig geworden bist?«

»Ich kann deine Reaktion verstehen, Mogens«, antwortete Graves, ruhig und mit einer so gelassen, fast amüsiert klingenden Stimme, dass Mogens unwillkürlich die Augen wieder öffnete und ihn ansah. Graves hatte bereits einen seiner Handschuhe wieder übergestreift - das schwarze Leder pulsierte und zuckte, als versuche sich, was immer darunter auch eingesperrt sein mochte, mit verzweifelter Kraft gegen sein Gefängnis zu wehren - und war gerade damit beschäftigt, auch den anderen anzuziehen. Er lächelte, doch Mogens entging nicht der Ausdruck verbissener Konzentration, der sich dicht unter der Oberfläche dieses Lächelns verbarg, ebenso wenig wie das Netz aus feinen Schweißperlen, das auf seiner Stirn erschienen war. Was immer Graves tat, forderte all seine Kraft von ihm.

»Mich hätte es vermutlich auch zu Tode erschreckt, wäre ich unvorbereitet mit diesem Anblick konfrontiert worden«, fuhr er fort. »Gottlob ist mir eine gewisse... Übergangsfrist geblieben, mich daran zu gewöhnen.«

»Und das ist also dein Beweis«, sagte Mogens noch einmal. Beinahe zu seiner eigenen Überraschung gelang es ihm, seine Stimme - annähernd - ruhig klingen zu lassen.

»Durchaus«, antwortete Graves. Er zog auch den zweiten Handschuh bis zum Gelenk hinauf, überzeugte sich mit zwei raschen, aber sehr aufmerksamen Blicken davon, dass die Handschuhe fest und sicher saßen, und wandte sich dann zu Miss Preussler um.

»Ich bitte Sie aufrichtig um Vergebung, meine Liebe«, sagte er. »Ich hätte Ihnen das gerne erspart, aber ich fürchte, uns bleibt im Moment keine Zeit mehr für lange Erklärungen. Und um deine Frage zu beantworten«, er drehte sich wieder zu Mogens herum, »so hätte ich von dir als Wissenschaftler erwartet, dass du ein wenig gelassener mit so etwas umgehst.«

»Gelassener!«, keuchte Mogens. »Damit?«

»Du solltest wissen, dass auch ein Fehlschlag durchaus als wissenschaftlicher Beweis anzuerkennen ist«, antwortete Graves. »Was mir damals widerfahren ist, war ein schrecklicher Unfall. Ein noch dazu voll und ganz selbst verschuldeter Unfall, herbeigeführt aus Ungeduld und Gier, und wenn es überhaupt eine Entschuldigung dafür gibt, dann die, dass ich jung und unerfahren und ungeduldig war.« Er hob demonstrativ die Hände vor das Gesicht, und obwohl sie nun wieder in ihren schwarzen Handschuhen steckten, musste Mogens sich beherrschen, um nicht erneut mit einem entsetzten Laut zurückzuprallen. »Aber ich habe für diese Dummheit bezahlt, Mogens.«

»Ja«, sagte Mogens. »Mit deinem Verstand.«

»Ich habe mit Dingen experimentiert, von denen ich keine Ahnung hatte«, antwortete Graves ungerührt. »Um ein Haar hätte es mich das Leben gekostet, und auch so ist der Preis, den ich dafür bezahlt habe, entsetzlich. Und dennoch war es der unumstößliche Beweis, dass ich auf dem richtigen Wege war.«

»Auch noch den Rest deines Körpers zu verlieren?«, fragte Mogens.

»Aber ich habe nichts verloren«, antwortete Graves kopfschüttelnd. »Ganz im Gegenteil. Meine Hände sind noch immer da. Sie haben sich nur... verändert.« Er ballte erst die rechte, dann die linke Hand zur Faust, öffnete sie dann mit einem Ruck wieder, bewegte die Finger so schnell, als spiele er auf der Tastatur eines unsichtbaren Klaviers. »Siehst du? Sie sind nichts Fremdes oder Feindseliges. Sie gehorchen mir noch immer. Ich kann damit ganz im Gegenteil Dinge tun, die früher unmöglich waren. Mein Fleisch hat sich verändert. Ich kann gut verstehen, dass es dich erschreckt. Aber daran ist nichts, was mir Angst machen müsste. Ganz im Gegenteiclass="underline" Diese Hände sind zehnmal so stark wie die deinen, Mogens. Zehnmal so stark wie die jedes andere Menschen. Und sie sind unverwundbar. Ich kann damit fühlen, und ich spüre Schmerzen darin wie jeder andere, aber ich kann sie in kochendes Wasser tauchen, glühende Kohlen damit berühren, und jede Wunde, die ihnen zugefügt wird, heilt binnen weniger Stunden oder Tage.«

»Und... und das ist Ihre... Ihre... Unsterblichkeit?«, hauchte Miss Preussler. Ihre Stimme bebte vor Entsetzen.

Graves schüttelte heftig den Kopf. »Sie verstehen es nicht!«, behauptete er. »Es war ein Fehler! Ich habe den falschen Weg beschritten, genau wie es die alten Ägypter taten, aber ich habe meinen Irrtum früh genug begriffen. Dieser Weg«, er streckte Miss Preussler die gespreizten Finger entgegen, »ist der falsche. Er ist sicher nicht für Menschen gedacht. Aber er hat mir den richtigen Weg gewiesen. Und jetzt sind wir ganz kurz vor dem Ziel.«

»Wieso?«, fragte Mogens.

»Weil wir kurz davor stehen, denen gegenüberzutreten, die die Unsterblichkeit auf diese Welt gebracht haben. Den Göttern des alten Ägypten.«

Mogens sah aus den Augenwinkeln, dass Miss Preussler zu einer zornigen Entgegnung ansetzte, und machte eine rasche, besänftigende Geste in ihre Richtung. »Wie meinst du das?«, fragte er beunruhigt.

»Weil sich das Tor zu den Sternen in dieser Nacht öffnet«, antwortete Graves. »Jetzt, Mogens. Heute. Es ist bereits geöffnet.«

»Das Tor zu den Sternen«, wiederholte Mogens. Er gab sich alle Mühe, einfach nur fragend zu klingen, doch der Ton, in dem er diese Worte ausgesprochen hatte, schien Graves' Unmut zu erregen, denn sein Gesicht verzerrte sich schon wieder zu einer Grimasse aus Zorn und überheblicher Ungeduld.

»Was, glaubst du, habe ich in den vergangenen zehn Jahren getan, du Narr?«, fauchte er. »Ich habe überall auf der Welt nach Beweisen für meine Theorie gesucht, und ich habe sie gefunden. Sie sind überall! Man muss nur die Augen aufmachen, um sie zu sehen. Die Vorfahren der Dogon waren hier; sie sind es noch. Und alle achtzehn Jahre, wenn die Sterne in einer ganz bestimmten Konstellationen stehen, dann öffnet sich das Tor zu ihrer Heimat, und sie kommen hierher, um nach ihren Kindern zu sehen. Wir werden ihnen begegnen, Mogens! Verstehst du denn nicht? Du und ich - wir werden den Göttern von den Sternen gegenüberstehen! Wir werden der Geschichte ins Gesicht blicken!«

Erschöpft ließ er die Arme sinken und brach ab. Das irrsinnige Flackern in seinen Augen wurde schwächer, erlosch aber nicht ganz, und von seiner Stirn und seinen Schläfen tropfte noch immer Schweiß. Er wartete sichtbar darauf, dass Mogens irgendetwas erwiderte, aber Mogens schwieg.

Was hätte er auch sagen sollen?

»Und deshalb haben Sie uns hier heruntergeführt?«, murmelte Miss Preussler erschüttert. »Sie haben alle das getan, weil Sie tatsächlich glauben, irgendwelchen... Götzen von den Sternen zu begegnen?«

»Ich habe nicht erwartet, dass Sie mich verstehen«, antwortete Graves kalt. »Und ich habe Sie gewarnt, mitzukommen.«

Nur ganz allmählich fand Mogens seine Fassung wieder. Er zweifelte jetzt nicht mehr im Geringsten daran, dass Graves vollkommen und unwiderruflich dem Wahnsinn verfallen war - einer ganz besonders tückischen, gefährlichen Art des Wahnsinns vielleicht, die sich hinter einem vermeintlich vernünftigen Auftreten und durchaus überzeugenden Worten verbarg, aber nichtsdestoweniger Wahnsinn blieb -, doch das änderte nichts daran, dass sie hier waren und sich in einer schrecklichen Gefahr befanden; gleich, wie die am Ende auch aussehen mochte.