»Und du bist ganz sicher, dass es hier geschieht?«, fragte er, »und heute?«
Graves nickte. »Was das Heute angeht, war ich es seit langer Zeit«, antwortete er. »Meine Berechnungen sind richtig. Das Hier...« Er hob die Schultern. »Um ehrlich zu sein, war ich nicht ganz sicher, bis vor kurzer Zeit. Aber nun, wo wir das hier gefunden haben... ja. Ich bin sicher.«
Er fuhr mit einer so plötzlichen, kraftvollen Bewegung herum, dass Mogens unwillkürlich erschrocken zusammenzuckte, hob aber auch zugleich beruhigend die Hand und winkte ihm, näher zu kommen. »Hier, sieh!«
Mogens gehorchte nur zögernd und mit einem ziemlich unguten Gefühl. Graves gestikulierte ihm jedoch immer heftiger zu, während er zugleich mit der anderen Hand aufgeregt auf das Mauerwerk vor sich deutete. »Sieh hier! Und hier!« Sein Zeigefinger stieß bei jedem Wort wie ein Dolch auf das Mauerwerk herab, markierte Linien und Punkte, wo sich die in den Stein gekratzten Rillen trafen oder überschnitten. »Siehst du es denn nicht?«
Mogens sah rein gar nichts. Für ihn waren und blieben die Linien, die für Graves eine so gewaltige Bedeutung zu haben schienen, nichts weiter als sinnloses Gekrakel; und vielleicht nicht einmal das. Er schüttelte wortlos den Kopf.
»Weißt du was, Mogens?«, fragte Graves. »Du hattest Recht. Du bist ein Ignorant.«
»Ich bin vor allem Archäologe, Jonathan«, antwortete Mogens, so ruhig er konnte. »Aber wenn du meine ganz private Meinung hören willst, dann bedeutet das hier gar nichts.«
Seltsamerweise schien seine Antwort Graves eher zu amüsieren, statt ihn wütend zu machen, womit er gerechnet hatte. »Wenn das so ist«, antwortete er, »dann ist es vielleicht jetzt angezeigt, dir etwas zu zeigen, was dich wirklich überzeugt. Nebenbei auch an der Zeit, dass du etwas für das exorbitante Gehalt tust, das ich dir bezahle.«
»Und was sollte das sein?«
Graves grinste plötzlich wieder breit. »Hast du etwa schon vergessen, warum wir hierher gekommen sind?«, fragte er. »Ich denke, deine liebe Freundin Miss Preussler brennt noch immer darauf, die Walküre zu spielen und die armen Gefangenen zu befreien. Meine Pläne sehen indes ein wenig anders aus. Keine Sorge - ich werde deine Hilfe nicht mehr lange benötigen. Und ich werde auch nicht von dir verlangen, dass du dich in Gefahr begibst, weder um deinen kostbaren Leib noch deine unsterbliche Seele. Ich erwarte, dass du mir deine Fähigkeiten vielleicht noch ein- oder zweimal zur Verfügung stellst. Was du danach tust, ist deine Sache.« Er drehte sich mit einem demonstrativen Ruck um und ging zur Tür. Doch bevor er den Raum verließ, fügte er noch hinzu: »Ich für meinen Teil habe eine Verabredung mit den Göttern.«
44.
Wenn es überhaupt etwas gab, womit Mogens seine Situation vergleichen konnte, so kam er sich vor wie eine Ratte in einem Labyrinth, das zur Versuchsanordnung eines wahnsinnig gewordenen Forschers gehörte. Er hatte längst aufgehört, mitzuzählen, wie oft sie in Sackgassen gelandet waren, wie viele Male sie vor jäh aufklaffenden Abgründen gestanden, wie viele Mauern sich plötzlich vor ihnen aufgetürmt hatten und wie oft sie den Weg zurück gegangen waren, den sie sich zuvor mühsam gesucht hatten. Er war nicht einmal sicher, ob sie ihrem Ziel tatsächlich näher gekommen waren oder sich nicht sogar davon entfernten.
Es war ihm auch gleich. Der - erstaunlicherweise immer noch halbwegs klar gebliebene - wissenschaftliche Teil seines Verstandes hatte es längst aufgegeben, irgendein System in diesem unterirdischen Labyrinth erkennen zu wollen, Mogens wäre nicht einmal mehr überrascht gewesen festzustellen, dass sich ihre Umgebung veränderte, während sie sie passierten. Er kam sich vor, als irrten sie durch die versteinerten Arterien und Venen einer gigantischen, unterirdischen Kreatur, die seit Jahrmillionen hier unten schlief.
Zumindest sein Zeitgefühl hatte er sich erhalten - wenn auch mit Hilfe seiner Taschenuhr, die er in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen zückte, um einen Blick auf die Zeiger zu werfen. Es war jetzt nach zwei in der Nacht, was bedeutete, dass mehr als eine Stunde vergangen war, seit sie das Tor in der Tempelkammer durchschritten hatten. Mogens' subjektivem Zeitempfinden nach schien mindestens die zehnfache Zeit verstrichen zu sein und dem Grad seiner Erschöpfung nach noch sehr viel mehr. Einer der Schnitte unter seiner Achsel war wieder aufgebrochen und blutete, zwar nicht besonders stark, aber doch beständig - Hemd und Hose auf seiner rechten Seite waren bereits nass und schwer von seinem eigenen Blut, und wenn er länger als einige Sekunden auf der Stelle verharrte, hinterließ er einen schmierigen roten Abdruck auf dem Boden.
Miss Preussler hatte ihn schon zweimal darauf angesprochen, aber er hatte ihre Bedenken jedes Mal mit einer beiläufigen Bemerkung abgetan. Möglicherweise würde ihm das sogar noch einmal gelingen, aber bestimmt nicht öfter.
Irgendwo vor ihm hielt Graves plötzlich inne, um sich mit ebenso unsicheren wie zornigen Bewegungen, die Mogens mittlerweile nur zu gut kannte, umzusehen. Auch Mogens hielt an. Zwischen Graves und ihm lagen noch gute zehn Schritte, und falls sich herausstellen sollte, dass sie abermals in eine Sackgasse geraten waren und umkehren mussten, waren das zwanzig, hin und zurück gerechnet.
Mogens erschrak, als er sich seiner eigenen Überlegungen bewusst wurde. Er begann schon mit einzelnen Schritten zu geizen. Wie mochte er sich in einer Stunde fühlen, oder zwei?
»Ist Ihnen nicht gut, Professor?«
Selbst Miss Preusslers Stimme benötigte ein paar Sekunden, um den Nebel aus dumpfer Erschöpfung und Furcht zu durchdringen, der sich über seine Gedanken gelegt hatte. Mit einer Bewegung, die sehr viel mehr über seine wirkliche Verfassung aussagte, als ihm lieb war, wandte er sich halb zu ihr herum und schüttelte den Kopf, und er zwang sogar ein halbwegs überzeugendes Lächeln auf sein Gesicht.
Wenigstens glaubte er, dass es ihm gelang. Aber als er in Miss Preusslers Gesicht blickte, wurde ihm klar, dass es wohl eher zur Grimasse geraten war.
»Nicht besonders«, gestand er, statt das Gegenteil zu behaupten und sich damit endgültig zum Narren zu machen. »Aber ich halte schon noch durch, keine Sorge.«
»Selbstverständlich halten Sie durch«, sagte Miss Preussler. Sie drohte ihm - nicht ganz spielerisch - mit dem Zeigefinger. »Sie gehören zu den Menschen, die selbst dann noch behaupten, es ginge ihnen gut, wenn sie mitten im Ozean ohne Rettungsring und mit einem Stein an den Beinen im Meer treiben, ich weiß. Warum müsst ihr jungen Leute immer Tapferkeit mit Starrsinn verwechseln? Es ist keine Schande, zuzugeben, dass es einem schlecht geht, mein lieber Junge.«
»Ganz so jung bin ich nicht mehr, Miss Preussler«, sagte Mogens sanft.
»Im Vergleich mit mir schon«, antwortete sie.
Mogens war der vierzig deutlich näher als der dreißig, aber er sparte es sich, sie auf etwas hinzuweisen, was sie ohnehin wusste. Stattdessen zuckte er vorsichtig mit den Achseln und rettete sich in ein dieses Mal ganz bewusst leicht schiefes Lächeln. »Sie haben Recht«, gestand er. »Es ist mir tatsächlich schon besser gegangen.«
»Ihre Wunde ist wieder aufgebrochen«, vermutete Miss Preussler, Wenn man in Betracht zog, dass sein Hemd mittlerweile wie ein triefend nasses braunrotes Tuch an seiner Brust klebte, war das allerdings auch nicht sehr schwer zu erraten. Er nickte.
»Lassen Sie mich sehen«, verlangte Miss Preussler.
Mogens warf einen raschen Blick zu Graves und Tom hin, bevor er mit einem widerstrebenden Nicken reagierte und noch widerstrebender seine Jacke auszuziehen begann. Die beiden hatten sich nicht von der Stelle gerührt, waren aber offenbar in eine von hitzigem Gestikulieren begleitete Diskussion verstrickt.