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Es gelang ihm endlich, seine Starre zu überwinden. Er ging an Graves vorbei und blieb mit klopfendem Herzen am Ufer des kleinen Kanals stehen, auf dem die Barke schwamm. Das Gefühl der Ehrfurcht blieb, aber er spürte auch zugleich immer deutlicher, dass es auch mit diesem Boot dasselbe war wie mit den Wandmalereien und Schriftzeichen oben. Es sah aus wie etwas, von dem er zu wissen glaubte, was es war, ohne es indes wirklich zu sein.

Als hätte er seine Gedanken gelesen, sagte Graves in diesem Moment: »Vielleicht ist auch das hier das eigentliche Original, nach dessen Vorbild alle anderen Kopien erschaffen wurden.«

»Das sollten wir uns vielleicht besser nicht wünschen«, sagte Tom.

Mogens fuhr alarmiert herum. Tom war nur wenige Schritte neben ihm an den Kanal heran getreten und hatte sich nach vorne gebeugt. Er betrachtete konzentriert den Sarkophag. Der Ausdruck auf seinem Gesicht gefiel Mogens ganz und gar nicht.

»Wie meinst du das?«, fragte er. »Was soll...?«

Er brach mitten im Satz ab, als er zu Tom hinging und sein Blick ebenfalls über die mattschwarze Oberfläche des Sarkophags strich. Tom musste seine Frage nicht mehr beantworten. Aus dem noch immer anhaltenden Gefühl von Ehrfurcht in Mogens wurde... etwas anderes.

Das Bild, das in die Oberfläche des Sarkophages eingraviert war, zeigte die liegende Gestalt eines hoch gewachsenen, muskulösen Mannes, der die typische Kleidung eines ägyptischen Pharao oder zumindest hochrangigen Edelmannes trug: einen knielangen gestreiften Rock, bis über die Waden hinauf geschnürte Sandalen, und einen prachtvollen, mit Gold verzierten Gürtel. Die Arme waren über der Brust gekreuzt, und in den Händen hielt er eine Art Zepter, das aber keine Ähnlichkeit mit irgendetwas aufwies, was Mogens jemals zu Gesicht bekommen hatte.

Sein Kopf war ein purer Albtraum.

Wenn die Abbildung tatsächlich den Kopf des Wesens zeigte, das sich im Innern des Sarkophages befand und nicht eine bizarre Maske, dann war es kein Geschöpf, das jemals auf dieser Welt gelebt hatte.

Er war sehr viel größer als der eines Menschen und wuchs ansatzlos und ohne sichtbaren Hals direkt aus den Schultern heraus. Es gab kein wirkliches Gesicht, sondern nur eine schuppige Fläche mit mehreren dünnen Schlitzen, die Mund und Nase darstellen mochten, dafür aber umso größere, starre Augen. Etwas wie ein kurzer, aber ungemein kräftiger Papageienschnabel nahm dem grässlichen Anblick auch noch die allerletzte Menschlichkeit. Das Geschöpf hatte keine Haare, sondern nur eine Art Flossenkamm, der in der Mitte des Schädels begann und in seinem Nacken verschwand und etwas wie einen um den gesamten Hals herumlaufenden zotteligen Bart, der allerdings nicht aus Haaren zu bestehen schien, sondern aus einem Gewirr fingerlanger, fleischiger Tentakel.

»Was... ist denn... das?«, krächzte Graves, der ihm gefolgt war. Seine Stimme klang belegt.

Mogens antwortete nicht, sondern riss seinen Blick mit einiger Mühe von dem schrecklichen Gesicht los und betrachtete noch einmal die Hände, die das sonderbare Zepter hielten. Er sah jetzt, dass sie nur vier Finger hatten statt fünf und zusätzliche, schuppige Schwimmhäute dazwischen. Es gab noch mehr Unterschiede zwischen der Physiologie dieses Geschöpfes und der eines Menschen, aber etwas in Mogens schreckte davor zurück, allzu genau hinzusehen.

»Wer weiß«, sagte er mit leiser, belegter Stimme, die sich vergebens um einen sarkastischen Ton bemühte. »Vielleicht auch das Original, nach dem die alten Ägypter erschaffen worden sind.«

»Das ist nicht komisch«, antwortete Graves.

Es hatte auch nicht komisch sein sollen. Mogens erschrak fast vor seinen eigenen Worten, denn er hatte etwas ausgesprochen, was er ganz und gar nicht hatte aussprechen wollen. »Ich hoffe, es sind nicht die Götter, mit denen du verabredet bist, Jonathan«, sagte er.

Graves sog hörbar die Luft ein, doch in diesem Moment drang Miss Preusslers Stimme vom oberen Ende der Treppe zu ihnen herab. »Professor? Tom? Ist alles in Ordnung?«

»Sicher«, antwortete Mogens hastig. »Bleiben Sie oben, Miss Preussler. Die Treppe ist nicht ungefährlich. Tom hat nur einen Kanal entdeckt. Wir kommen sofort wieder hoch.«

Graves warf ihm einen raschen, dankbaren Blick zu. Wenn auch aus vollkommen unterschiedlichen Gründen, so war ihnen doch beiden ganz und gar nicht daran gelegen, dass Miss Preussler hier herunter kam und das unheimliche Götzenbild sah. Mogens wäre es fast lieber gewesen, hätte auch er es nicht gesehen.

»Ich frag mich, wohin dieser Kanal führt«, murmelte Tom. Nachdenklich ließ er sich in die Hocke sinken und streckte den linken Arm zum Wasser hinab, während er sich mit der anderen Hand am Rumpf des Bootes festhielt, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Mogens war nicht wohl, als er das sah, aber er schwieg.

Tom tauchte die Hand ins Wasser und berührte die Fingerspitzen vorsichtig mit der Zunge, nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte. Dabei war Mogens noch viel weniger wohl.

»Salzig«, sagte Tom. »Das ist Salzwasser.« Er wischte sich die Finger an der Hose ab. »Der Kanal muss 'ne Verbindung zum Meer haben.«

»Hier?«, fragte Mogens zweifelnd. »So weit im Binnenland?«

»So weit ist es gar nicht«, antwortete Graves. »Luftlinie...« Er überlegte einen Moment. »Vielleicht zwei oder drei Meilen. Kaum mehr.« Mogens' zweifelnder Blick schien ihm nicht zu entgehen. »Die Straße, die ihr genommen habt, führt ein ganzes Stück an der Küste entlang. Man merkt es nur nicht, weil die Hügel dazwischen liegen.«

Mogens nahm das so hin - zumal er gar nicht wirklich an Graves' Aussage gezweifelt hatte. Viel mehr hatte ihn plötzlich der Schatten einer Erinnerung gestreift, die irgendetwas mit dem Meer zu tun hatte, ihm aber wieder entglitt, bevor sie wirklich Gestalt annehmen konnte. Es war keine angenehme Erinnerung gewesen - aber alles andere hätte ihn beinahe überrascht. Seit sie vor anderthalb Stunden die Leiter heruntergestiegen waren, schienen sie einen Teil der Welt betreten zu haben, in dem nichts Angenehmes oder Beruhigendes mehr Bestand haben konnte.

»Was ist das da, im Wasser?« Graves deutete auf die fast reglos daliegende schwarze Oberfläche des Kanals hinter dem Boot. Etwas schwamm auf der Wasseroberfläche, und zum Teil wohl auch ein Stück darunter; ein dünnes Geflecht, wie schwarzer Seetang oder Büschel aus dünnen Haaren, die sich in der Strömung bewegten. Tom wollte sich abermals vorbeugen, um danach zu greifen, doch Graves hielt ihn mit einer abermaligen, unwilligen Geste zurück. »Seetang«, wiederholte er. »Wie ich gesagt habe: Der Kanal muss eine Verbindung zum Meer hin haben. Komm - wir wollen die gute Miss Preussler nicht länger als nötig warten lassen.«

Ohne Mogens' Antwort abzuwarten, ging er mit raschen Schritten zur Treppe zurück. Mogens warf noch einen allerletzten, unsicheren Blick auf die monströse Gestalt auf dem Deckel des Sarkophags. Ein Teil von ihm war noch immer von dem bloßen Anblick zu Tode erschreckt, aber da war auch noch ein anderer, auf eine schon fast obszön morbide Weise faszinierter Teil, der sich fragte, was er wohl erblicken würde, wenn sie den Deckel der schwarzen Truhe anhoben. Er sah schwer aus, aber nicht so schwer, dass Tom, Graves und er ihn nicht mit gemeinsamen Kräften bewältigen könnten.

Fast entsetzt verscheuchte er den Gedanken und beeilte sich, zu Graves aufzuschließen.

Miss Preussler wartete voller Ungeduld am oberen Ende des Treppenschachtes. Schon der Ausdruck auf ihrem Gesicht machte Mogens klar, was sie von seiner Behauptung hielt, dort unten gäbe es absolut nichts Außergewöhnliches zu sehen, doch obwohl Graves etliche Sekunden vor ihm hier oben angekommen war, hatte sie ihn bisher nicht einmal eines Blickes gewürdigt. Wenn sich Miss Preussler einmal zu etwas entschlossen hatte, dann blieb sie diesem Entschluss im Allgemeinen auch treu.

»Also?«, fragte sie.

»Wasser«, antwortete Mogens. »Tom hat einen Kanal entdeckt.« Er kam jeder entsprechenden Frage mit einem Kopfschütteln zuvor. »Aber es ist kein Trinkwasser.«