Выбрать главу

»Tom?«, fragte er.

Im allerersten Moment schien es, als würde Tom überhaupt nicht reagieren. Dann fuhr er leicht zusammen, riss seinen Blick von der Ansammlung bizarrer Häuser, Straßen und Gebäude los und verzog die Lippen zu einem dünnen, vollkommen verunglückten Lächeln. »Alles in Ordnung, Professor«, sagte er. »Ich war nur überrascht. Damit... habe ich nicht gerechnet.«

»Das hat wohl keiner von uns«, antwortete Mogens.

»Und dort unten warten sicherlich noch viel mehr und größere Wunder auf uns«, fügte Graves hinzu. »Aber wir werden sie möglicherweise nie zu Gesicht bekommen, wenn wir noch lange hier herumstehen und reden.«

Was nicht unbedingt das Schlechteste wäre, fügte Mogens in Gedanken hinzu. Er wunderte sich allmählich über sich selbst. Ein Teil von ihm befand sich noch immer in einem Zustand schierer Euphorie. Der Forscher, der er die ganze Zeit über immer gewesen war, jubilierte innerlich, und es war ihm vollkommen egal, welches finstere Geheimnis sich unter der Oberfläche des Sichtbaren verbergen mochte und ob er möglicherweise mit dem Leben für diese Entdeckung bezahlen musste. Und dennoch wurde seine Furcht immer stärker. Mit jedem schweren, hämmernden Herzschlag in seiner Brust verstand er besser, was Miss Preussler gerade gemeint hatte. Sie hatten vermutlich gar keine andere Wahl, als dort hinunter zu gehen, gleich, aus welchen Gründen - aber er wollte es nicht. Um keinen Preis. Ein immer größer werdender Teil in ihm selbst krümmte sich vor Entsetzen bei der bloßen Vorstellung, nur einen Fuß in diese abscheuliche Stadt zu setzen.

»Aber wo sind all diese... Geschöpfe?«, murmelte Miss Preussler. »Als ich gestern hier unten war, da waren es Hunderte. Wohin sind sie verschwunden?«

»Spielt das eine Rolle?«, fragte Graves. »Wir sollten froh sein, sie nicht zu sehen.« Er sah sich konzentriert um und deutete dann mit dem ausgestreckten Arm nach rechts. »Dort drüben ist eine Brücke.«

Mogens hätte für das, was Graves als Brücke bezeichnete, ohne Schwierigkeiten ein halbes Dutzend anderer, weniger schmeichelhafte Bezeichnungen gefunden, aber er musste Graves Recht geben. Das Niveau der Stadt lag gute fünfzehn oder zwanzig Meter unter ihnen, als wäre sie ihn einen Krater hinein gebaut worden, der hier tief unter der Erde gähnte. Mogens traute sich zwar trotz seines geschwächten Zustandes immer noch zu, die zerschrundene Böschung hinunterzuklettern, doch der Weg, den Graves entdeckt hatte, war zweifellos einfacher. Und vermutlich auch sicherer. Zugleich stellte er sich natürlich dieselbe Frage wie Miss Preussler gerade. Hier unten sollte es von Ghoulen wimmeln. Wo waren sie?

Ohne ein weiteres Wort setzten sie sich in Bewegung.

Sie mussten trotz allem ein kleines Stück weit eine fast schon halsbrecherische Kletterpartie hinter sich bringen, um sich ihren Weg über rasiermesserscharfe Steine und Grate zu suchen, bis sie Graves' Brücke erreicht hatten. Danach wurde es schlimmer. Mogens nahm in Gedanken seine Einschätzung zurück, dass dieser Weg der leichtere wäre, aber er konnte Graves nicht die Schuld daran geben, so gerne er es auch getan hätte. Der kühn geschwungene, steinerne Bogen, der zum Niveau der Stadt hinunterführte, machte einen soliden und äußerst breiten Eindruck, doch sobald sie ihn betreten hatten, änderte sich das schlagartig. Nicht nur Mogens' Sinne begannen regelrecht Amok zu laufen, kaum dass er den Boden aus zyklopischen Steinquadern berührte, die auf schier unfassliche Weise falsch miteinander vermauert waren. Seine Augen sagten ihm, dass die Brücke weiter solide und massiv stand, aber sein Gleichgewichtssinn behauptete das Gegenteil. Ständig hatte er das Gefühl, die Arme ausstrecken zu müssen, um nicht zu stürzen, und die Brücke schien ununterbrochen sowohl ihre Breite als auch ihre Form zu verändern. Mogens versuchte sich mit dem Gedanken zu beruhigen, dass es vermutlich ganz genauso war, wie Graves gerade Miss Preussler gegenüber behauptet hatte: Es war nicht diese Umgebung, mit der etwas nicht stimmte. Es waren nur ihre eigenen, unzulänglichen menschlichen Sinne, die verrückt spielten, weil sie mit dem, was sich ihnen darbot, nichts anfangen konnten.

Aber war dieser Gedanke tatsächlich eine Beruhigung?

Endlich aber hatten sie es geschafft, und Graves - natürlich Graves; niemals hätte er sich das nehmen lassen - war der Erste, der seinen Fuß auf den Boden der eigentlichen Stadt setzte. Er verlieh dem Moment das ihm seiner Meinung nach wohl zustehende Gewicht, indem er zwei oder drei Herzschläge lang einfach mit geschlossenen Augen stehen blieb, sodass sie gezwungen waren, ebenfalls anzuhalten und zu warten, bis er endlich zur Seite trat und ihnen Platz machte.

Mogens wandte sich mit einem fragenden Blick an Miss Preussler. »Wohin?«

Suchend und mit einem hilflosen Ausdruck sah sie sich um. Schließlich deutete sie - zögernd - auf ein großes, mit prachtvollen Farben bemaltes Gebäude von quadratischem Grundriss, das nur etwa vierzig oder fünfzig Meter entfernt lag. »Dorthin«, sagte sie, und fügte nach einer Sekunde und leise hinzu: »Glaube ich.«

»Dafür ist jetzt keine Zeit«, sagte Graves unwillig. »Uns bleiben nur noch wenige Stunden.«

»Wofür?«, wollte Mogens wissen.

»Hast du mir denn überhaupt nicht zugehört, du Narr?«, fauchte Graves. »Das Tor ist geöffnet, Mogens! Der Weg zum Hundsstern steht offen!«

»Und?«, fragte Mogens ruhig. Erneut lief ihm ein rascher, eisiger Schauer über den Rücken. Dass Graves auf eine gewisse Art wahnsinnig war, hatte er mittlerweile endgültig begriffen. Aber vielleicht war ihm das wahre Ausmaß dieses Wahnsinns - und seine Gefährlichkeit! - trotz allem noch nicht ganz klar gewesen.

»Und?«, keuchte Graves. »Mogens! Wir können ihnen gegenübertreten, verstehst du denn nicht? Dieser Weg öffnet sich nur zweimal in einem ganzen Menschenleben! Wir können diese Chance nicht ungenutzt verstreichen lassen!«

»Und was genau meinst du damit?«, wiederholte Mogens. Er war ziemlich sicher, die Antwort zu kennen, so wie auch Graves umgekehrt wissen musste, dass er sie kannte. Und doch war es wichtig für ihn, Graves dazu zu zwingen, sie laut auszusprechen.

»Im Augenblick sind wir relativ sicher«, sagte Graves. »Mir war nicht ganz klar, ob ich die alten Schriften richtig gedeutet habe, aber nun bin ich sicher. Solange das Tor geöffnet ist, scheinen die Diener zu schlafen. Aber sie werden erwachen, sobald es sich wieder schließt, und wenn wir dann noch hier sind, töten sie uns.«

»Die Diener?«

Graves' Gesicht wurde zu einer hässlichen Grimasse der Ungeduld. »Die Ghoule.« Er machte eine unwillige Handbewegung. »Nenn sie, wie du willst. Wichtig ist, dass sie uns nicht gefährlich werden, solange wir keinen Fehler machen.«

»Dann wäre jetzt die Gelegenheit, die Gefangenen zu befreien«, sagte Mogens.

Graves' Reaktion war ganz genau die, die er erwartet hatte. »Bist du von Sinnen?«, keuchte er. »Uns bleiben vielleicht noch zwei Stunden, allerhöchstens drei! Wir haben keine Zeit für so einen romantischen Unsinn!«

»Menschenleben zu retten würde ich nicht als romantischen Unsinn bezeichnen«, antwortete Mogens ruhig.

Graves setzte sichtlich dazu an, aufzufahren, riss sich dann aber im letzten Moment wieder zusammen und antwortete erst nach einer spürbaren Pause und mit einem bedauernden Kopfschütteln. »Dein Verhalten ehrt dich, Mogens«, sagte er. »Aber das hier ist jetzt nicht der Moment für große Gesten. Schon gar nicht, wenn sie sinnlos sind.«

»Menschenleben zu retten ist auch nicht sinnlos«, beharrte Mogens.

»Wenn man bei dem Versuch scheitert, schon«, antwortete Graves. Er wandte sich nun ganz zu Miss Preussler um und fuhr in noch sanfterem Tonfall fort. »Es tut mir aufrichtig Leid, meine Liebe, aber Tatsache ist, dass diesen Menschen nicht mehr zu helfen ist. Glauben Sie mir, sie waren im gleichen Moment verloren, in dem sie in die Gewalt dieser Geschöpfe geraten sind.«