»Und woher wollen Sie das wissen?«, fragte Miss Preussler. Ihr Entsetzen über das, was sie hörte, war nun eindeutig größer als ihr Stolz, der es ihr bisher unmöglich gemacht hatte, direkt mit Graves zu sprechen.
»Ich weiß viel über diese Kreaturen«, gestand Graves. »Es gibt so viel mehr, was ich nicht weiß, aber manches habe ich in den letzten zehn Jahren doch herausgefunden. Die Zeit reicht nicht, um es Ihnen zu erklären, und Sie würden es wahrscheinlich auch gar nicht verstehen - aber glauben Sie mir dies: Diesen bedauernswerten Menschen ist nicht mehr zu helfen. Niemand, der einmal in die Gewalt dieser Wesen gerät, kann gerettet werden.«
»Niemand?«, wiederholte Miss Preussler spöttisch.
Graves nickte nur noch einmal, und noch überzeugter. »Sie sind die Erste, die ihnen jemals entkommen ist, soviel ich weiß«, sagte er. »Und ich verstehe es nicht wirklich.«
»Wo es einmal eine Ausnahme gegeben hat, da kann es auch noch andere geben«, beharrte Miss Preussler. Sie machte eine zornige Handbewegung, als Graves etwas darauf erwidern wollte, und fuhr in hörbar schärferem Tonfall fort. »Genug, Doktor Graves. Sie sind ein Monstrum! Wie können Sie annehmen, ich wäre bereit, auch nur das Leben eines einzigen Menschen zu riskieren, nur um mich mit diesen... Ungeheuern zu treffen? Ich werde diese Gefangenen suchen, und wenn es sein muss, ganz allein!«
»Und damit alles aufs Spiel setzen?«, fragte Graves. »Wenn Sie die Diener wecken, ist alles vorbei. Dann werden Sie nicht nur die Gefangenen nicht befreien, Sie besiegeln damit auch unser Schicksal.«
»Dieses Risiko werde ich wohl eingehen müssen«, antwortete Miss Preussler ungerührt.
»Das kann ich nicht erlauben, fürchte ich«, erwiderte Graves.
»Und wie wollen Sie mich daran hindern?«, erkundigte sich Miss Preussler in fast freundlichem Tonfall. »Vielleicht mit Gewalt?«
»Wenn es sein muss«, bestätigte Graves.
Mogens sagte nichts dazu, aber er tat etwas anderes: Er trat mit einem einzigen, demonstrativen Schritt unmittelbar neben Miss Preussler und verschränkte herausfordernd die Arme vor der Brust. Graves' Augen wurden schmal. Er straffte sich. Einen Moment lang versuchte er einfach, Mogens niederzustarren. Als ihm das nicht gelang, warf er einen herausfordernden Blick in Toms Richtung.
Tom senkte betreten die Augen und sah weg.
»Mogens, so sei doch vernünftig!« Graves' Stimme wurde beschwörend, ja, schon beinahe flehend. »Versuch doch wenigstens zu verstehen, wovon ich spreche!«
»Ich fürchte, ich verstehe dich nur zu gut«, antwortete Mogens traurig.
»Wohl kaum! Uns bietet sich hier die vielleicht größte Chance, die sich Menschen jemals geboten hat, seit diese Welt existiert. Begreifst du denn nicht, was wir alles von ihnen lernen können? Was sie uns geben können?«
Mogens sah ihn nur weiter traurig an. Er wusste, dass sie verloren hatten. Dieses Gespräch war vollkommen sinnlos. Statt zu antworten, sah er auf bezeichnende Art auf Graves' in schwarzes Leder gehüllte Hände hinab und schüttelte noch einmal den Kopf.
»Aber ich muss dorthin!« Graves schrie fast, während er heftig gestikulierend mit beiden Armen auf die monströse Pyramide im Herzen der Stadt deutete. »Verstehst du es denn nicht! Es ist alles genau so, wie es in den alten Schriften beschrieben wird! Und ich habe es gesehen, vorhin, auf dem Plan! Das Tor ist dort, in dieser Pyramide! Und es ist offen!«
Auch wenn er es im Grunde gar nicht wollte, hob Mogens noch einmal den Kopf und sah in dieselbe Richtung, in die Graves' schreckliche Hände deuteten. Schon der bloße Anblick des monströsen Bauwerkes bereitete ihm jetzt eine fast körperlich spürbare Übelkeit. Es war, als würde es schlimmer, mit jedem Schritt, den sie sich dieser gemauerten Obszönität näherten. Mogens korrigierte seine Schätzung, was ihre Größe anging, noch einmal um ein gehöriges Stück nach oben, und er fragte sich zugleich, wieso es ihm nicht sofort und auf den ersten Blick aufgefallen war. Diese Pyramide war keine bloße Kopie des Grabmals des Cheops in Gizeh. Es war mit ihr wie mit den Hieroglyphen, dem Boot und allem anderen hier. Dies war das Original, nach dessen Vorbild die großen Pyramiden in Kairo errichtet worden waren. Ihre Größe und Proportionen entsprachen exakt denen der Cheopspyramide, und die vermeintlichen Unterschiede rührten einzig daher, dass all die verstrichenen Jahrtausende diesem Bauwerk nichts hatten anhaben können. Alles war da. Selbst die gewaltige, mit purem Gold bedeckte Spitze, die bei den Pyramiden Ägyptens längst dem Ansturm der Zeit und der Gier der Menschen zum Opfer gefallen war, schimmerte prachtvoll und höhnisch auf sie herab.
Und zugleich war dieses monströse Etwas so vollkommen anders, so abstoßend und furchteinflößend in all seiner Größe, dass er das Gefühl hatte, zugrunde gehen zu müssen, wenn er es zu lange ansah.
»Also gut!«, fauchte Graves. »Dann gehe ich eben allein. Ich bin tief enttäuscht von dir, Mogens. Und von dir auch, Tom. Nach allem, was ich für dich getan habe, hätte ich mir etwas mehr Loyalität erhofft.«
Weder Mogens noch Tom antworteten. Tom drehte sich noch um ein kleines Stück weiter weg und presste die Lippen aufeinander.
»Ihr wisst ja nicht, was ihr da verschenkt«, murmelte Graves, schüttelte noch einmal den Kopf und drehte sich dann herum, um mit raschen Schritten in Richtung der Pyramide davon zu gehen. Mogens wollte ihm nachblicken, aber die verdrehte, sinnverwirrende Fremdartigkeit dieses Ortes spielte ihm abermals einen Streich. Obwohl Graves nicht rannte, schrumpfte seine Gestalt schon nach wenigen Schritten zusammen und entschwand dann gänzlich seinen Blicken.
»Danke, Tom«, sagte Miss Preussler. Ihre Stimme wurde weich. »Das war sehr tapfer von dir.«
»Nein«, widersprach Tom. Er machte eine Kopfbewegung in Richtung der Pyramide, ohne sie indes direkt anzusehen. »Tapfer war es gewesen, Doktor Graves zu begleiten. Aber das kann ich nicht. Ich geh nicht dahin. Dieser Ort ist böse.«
Auch Mogens hätte es nicht besser ausdrücken können. Er musste sogar eingestehen, dass Tom in seiner einfachen, direkten Art viel präziser ausgedrückt hatte, was er selbst in einem Sturm komplizierter Gefühle und Gedanken nicht so hatte auf den Punkt bringen können. Alles, was er beim Anblick dieser monströsen Pyramide empfand, lief auf dieses eine, schlichte Wort hinaus, auch wenn es in seiner von Wissenschaft und Logik geprägten Welt eigentlich nichts zu suchen hatte. Sie war böse.
Mogens war erschüttert von der schlichten Einfachheit dieses Gedankens. Er bedurfte keiner Erklärungen, keiner Begründung und keines Wenn und Aber, denn er enthielt eine fundamentale Wahrhaftigkeit, die keinerlei Zweifel zuließ. Selbst der Wissenschaftler in ihm schwieg, obwohl er noch vor weniger als einer Stunde die Existenz von etwas wie dem absolut Bösen - oder auch Guten - vehement bestritten hätte. Waren dies doch Begriffe aus der Gefühls- und Gedankenwelt des Menschen, die in der rein logisch erklärbaren Welt der Wissenschaft nichts verloren hatten. Aber vielleicht war es genau umgekehrt. Vielleicht war es nicht die Wissenschaft, die als eherne Grundpfeiler das Gefüge des Universums stützte, sondern vielleicht waren es gerade Begriffe wie Gut und Böse, Richtig und Falsch, Glaube und Zweifel, die das Universum zusammenhielten, und vielleicht war es kein Zufall, dass seinen Geschöpfen zuerst das Fühlen gegeben wurde und erst dann das Denken.
Es kostete ihn einige Mühe, diesen Gedanken abzuschütteln und sich wieder auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren.
»Dann sollten wir uns auf den Weg machen«, sagte er. »Ich weiß nicht, wie viel Zeit uns bleibt, aber ich fürchte, dass sie so oder so knapp wird.« Er warf Tom bei diesen Worten einen fragenden Blick zu, auf den er aber auch diesmal wieder nur ein zaghaftes Kopfschütteln zur Antwort bekam. Immerhin setzte sich der Junge als erster in Bewegung und schlug die Richtung ein, in die Miss Preussler gerade gedeutet hatte, und kaum hatte er die ersten zwei oder drei Schritte getan, da wiederholte sich der unheimliche Effekt, den er gerade schon bei Graves beobachtet hatte: obwohl Tom nicht schnell ging, schien er sich rasend schnell zu entfernen, als lege er mit jedem Schritt ein Zehnfaches der eigentlich möglichen Entfernung zurück. Mogens beeilte sich, Miss Preussler am Arm zu ergreifen und Tom zu folgen. Irgendetwas sagte ihm, dass ihre Aussichten, einander wiederzufinden, sollten sie sich in dieser unheimlichen, unwirklichen Umgebung aus den Augen verlieren, nicht gerade gut standen.