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Das Gefühl, etwas durch und durch Falsches zu tun, wurde mit jedem Schritt schlimmer, den sie tiefer in die Stadt eindrangen. Noch immer war keine Spur der Bewohner dieser unterirdischen Nekropole zu sehen, und noch immer hörten sie nicht das mindeste Geräusch, und dennoch schnürte das Gefühl, beobachtet, aus unsichtbaren, gierigen Augen belauert und angestarrt zu werden, Mogens mit jedem Schritt mehr den Atem ab. Er wagte es schon längst nicht mehr, auch nur in Richtung der monströsen Pyramide zu sehen, die wie ein steinerer Gott über dieser Stadt thronte, aber es nutzte nichts. Er konnte sich verbieten, dieses groteske Gebilde anzustarren, aber er konnte ihm nicht verbieten, seinerseits sie anzustarren. Der Gedanke war vollkommen absurd, und doch war es ganz genau das, was nicht nur Mogens in diesem Moment fühlte: Es war dieses Gebäude, das sie belauerte. Nichts in ihm oder seiner Nähe, nicht die Kreaturen, die es erschaffen hatten oder auch heute noch bewohnen mochten, sondern dieses entsetzliche... Etwas selbst.

Sie betraten eine der breiten Alleen, die die Stadt in regelmäßigen Abständen zerteilten und allesamt auf die Pyramide in ihrem Zentrum zu strebten. Ohne es auch nur selbst zu bemerken, hielten sie ganz instinktiv den größten nur möglichen Abstand zu den unheimlichen Gebäuden, die die Straße säumten, sodass sie im Grunde etwas sehr Dummes taten: Sie bewegten sich ohne jegliche Deckung und für jedermann weithin sichtbar genau in der Mitte der Straße. Wenn in diesem Moment auch nur einer der unheimlichen Bewohner dieser Stadt aus seinem Haus trat und zufällig in ihre Richtung blickte, dann musste er sie einfach sehen, dachte Mogens. Und dennoch ging er gerade weiter, nahm lieber die Gefahr einer frühzeitigen Entdeckung in Kauf, als sich einem dieser grässlichen Gebilde aus Stein und gemauerter Furcht auch nur eine Sekunde früher zu nähern, als unbedingt nötig war.

Wieder war es, als hätte Miss Preussler seine Gedanken gelesen; auch wenn die Wahrheit wohl eher die war, dass ihre Überlegungen in die gleiche Richtung gingen wie seine. Sie sah sich in immer kürzeren Abständen und mit deutlich zunehmender Nervosität um und murmelte schließlich: »Ich verstehe das nicht. Wo sind sie alle?«

»Vielleicht hatte Graves ja Recht mit seiner Vermutung«, antwortete Mogens. »Tom?«

Er hatte eigentlich gar nicht mit einer Antwort gerechnet. Doch nachdem er einige weitere Schritte getan hatte - und noch immer, ohne ihm dabei in die Augen zu sehen -, sagte Tom: »Ich weiß es wirklich nicht, Professor. Doktor Graves hat mir nie sehr viel über die Ergebnisse seiner Arbeit erzählt. Ein bisschen hab ich aufgeschnappt und mir das eine oder andere auch zusammengereimt, aber...«

»Aber du hast es nicht geglaubt, nicht wahr?«, führte Mogens den Satz zu Ende, als Tom nicht antwortete, sondern nur wieder betreten den Blick senkte und die Unterlippe zwischen die Zähne zog, um darauf herumzukauen. »Wie hättest du auch? Ich glaube es ja selbst nicht - nicht einmal jetzt, wo ich es sehe.«

Tom warf ihm einen kurzen, dankbaren Blick zu, blieb aber weiter so niedergeschlagen, wie er war. »Aber ich hätte es tun sollen«, beharrte er. »Doktor Graves hat... sehr viel für mich getan. Ich weiß, dass Sie nicht viel von ihm halten, Professor, und ich nehm an, dass Sie gute Gründe dafür haben. Aber er hat mir das Leben gerettet, und er hat...« Er suchte einen Moment lang vergebens nach Worten und hob schließlich die Schultern. »Ich bin ihm auf jeden Fall mehr schuldig, als ich jemals zurückzahlen kann.«

»Das ist Unsinn, Thomas«, sagte Miss Preussler. »Dieser Mann hat sich mit dem Teufel eingelassen. Du bist ihm gar nichts schuldig. Was immer er für dich getan hat oder auch nicht, geschah ganz gewiss nur aus Eigennutz. Mach dir bitte keine Vorwürfe.« Sie wechselte abrupt das Thema und deutete nach links. »Dort drüben.«

Ihr ausgestreckter Arm deutete auf ein monströses Gebäude, das Mogens an eine auf absurde Art detonierte Mastaba erinnerte und aus der Entfernung bunt bemalt und fast freundlich gewirkt hatte. Jetzt wirkten die Farben matt und vermittelten dem Betrachter ein staubiges Gefühl, das es einen fast schwer machte, zu atmen. Mogens' Unbehagen wuchs noch weiter, als er die beiden riesigen Statuen rechts und links des offen stehenden Einganges betrachtete. Aus der Ferne hatte er sie für große Sphinxen gehalten, doch sie waren es nicht. Die gemauerten Wächter, die das Tor flankierten, stellten so wenig eine Sphinx dar, wie die Gestalt auf dem Sarkophag ein Mensch gewesen war.

»Vielleicht... hätten Sie das Gewehr nehmen sollen, das Graves Ihnen angeboten hat, Professor«, sagte Miss Preussler nervös.

Mogens hielt einen Moment inne und sah sie überrascht an. Miss Preussler verabscheute Waffen mindestens ebenso sehr wie er, das wusste er. Dennoch nickte sie bekräftigend, als sie seinen verwunderten Blick bemerkte, und fügte mit einer Geste auf ihr Ziel hinzu: »Dort drinnen sind sehr viele von ihnen.«

»Wenn Doktor Graves Recht hat, dann schlafen sie«, sagte Tom. »Und ich glaub, er hat Recht.«

»Alle?«, vergewisserte sich Mogens.

»Doktor Graves hat mir mal erzählt, dass sie nur die Diener der alten Götter waren«, sagte Tom, während sie weitergingen. »Und er war wohl der Meinung, dass es sich noch dazu nur um mindere Kreaturen handelte.«

»Es gibt keine minderen Kreaturen, Thomas«, verbesserte ihn Miss Preussler mit einem Unterton von sanftem Tadel.

»Doktor Graves war jedenfalls der Meinung, sie wären nicht viel mehr als Tiere, die nur für niedrige Arbeiten bestimmt waren«, beharrte Tom. »Oder vielleicht auch so was wie ihre Krieger. Er hat nicht oft mit mir drüber gesprochen, und ich hab auch nicht alles verstanden, wenn ich ehrlich bin. Aber ich glaub, er war der Meinung, dass sie in eine Art... Schlaf versinken, wenn sich das Tor öffnet.«

»Und wozu sollte das gut sein?«, fragte Miss Preussler.

»Das weiß ich nicht«, antwortete Tom, fügte dann aber trotzdem - und leiser - hinzu: »Vielleicht fürchten die Götter sie selbst.«

Miss Preusslers Stimme wurde streng. »Hör endlich mit diesem dummen Gerede von ›Göttern‹ und ›mächtigen Wesen‹ auf, Thomas«, sagte sie. »Es gibt keine Götter, Tom. Nur einen einzigen Gott, und der fürchtet sich ganz bestimmt nicht vor diesen Scheusalen.«

»Aber Doktor Graves...«, begann Tom.

»... ist wahnsinnig, so einfach ist das!«, unterbrach ihn Miss Preussler. »Und jetzt will ich nichts mehr von diesen Mann und seinem verrückten Gerede hören!«

Es war schwer, Toms Reaktion genau einzuschätzen. Im allerersten Moment sah er Miss Preussler beinahe verstockt an, und Mogens glaubte für eine Sekunde sogar so etwas wie blanke Feindseligkeit in seinen Augen aufblitzen zu sehen. Dann aber zwang er sich zu einem schüchternen Lächeln und setzte zu einer Antwort an - und ein einzelner Schuss peitschte über den Platz.

Tom fuhr wie von der Tarantel gestochen herum. Alle Farbe wich aus seinem Gesicht. »Doktor Graves!«

Mogens ahnte, was passieren würde, aber er zögerte einen Sekundenbruchteil zu lange. Tom sah sich hektisch um. Sein Blick flackerte, während er vergebens versuchte, die Richtung herauszufinden, aus der der Schuss gekommen war. »Doktor Graves«, keuchte er noch einmal.