»Tom - nicht!«, schrie Mogens - aber es war zu spät. Tom wirbelte auf der Stelle herum und rannte mit gewaltigen Sätzen davon, und Mogens' zupackende Hände griffen ins Leere. Tom war mit zwei Schritten verschwunden, aufgesogen von der unheimlichen Perspektive dieser verzerrenden Welt. Nur das Geräusch seiner Schritte war noch für einen weiteren Moment zu hören, bevor es ebenfalls erlosch.
»Um Himmels willen, Professor, so tun Sie doch etwas«, hauchte Miss Preussler. »Halten Sie ihn auf!«
Aber wie denn? Mogens machte tatsächlich einen halben Schritt in die Richtung, in die Tom verschwunden war, blieb aber sofort wieder stehen. Tom war nicht einfach nur davongelaufen. Er war so spurlos verschwunden, als hätte er niemals existiert. Mogens verspürte ein neuerliches, eisiges Frösteln, als ihm klar wurde, dass er nicht einmal mit wirklicher Sicherheit sagen konnte, in welche Richtung er davongelaufen war. Vielleicht gab es so etwas wie Richtungen hier unten gar nicht.
»Lassen Sie ihn, Miss Preussler«, sagte er leise. »Ich glaube nicht, dass wir ihn zurückholen könnten. Selbst wenn wir wüssten, wo er ist.«
»Wahrscheinlich haben Sie Recht«, pflichtete sie ihm niedergeschlagen bei. »Der arme Junge.« Sie atmete schwer ein und aus, dann drehte sie sich langsam und mit hängenden Schultern wieder zu Mogens um. »Kommen Sie, Professor«, sagte sie. »Hier gibt es noch andere, die unserer Hilfe bedürfen. Suchen wir diese armen Menschen.«
46.
Von all den Schrecken, die er im Innern des Gebäudes befürchtet hatte, wartete kein einziger auf sie, als sie durch das Tor schritten. Die Wirklichkeit war ganz im Gegenteil beinahe enttäuschend, zumindest aber banaclass="underline" Ein rechteckig geschnittener, vollkommen leerer Raum mit hoher Decke, dessen Wände nur sparsam bemalt waren, sich aber in einem denkbar schlechtem Zustand befand. Der Putz war überall in großen, hässlichen Flecken abgeblättert und gab den Blick auf das darunter liegende Mauerwerk frei, das ebenfalls stark beschädigt war. Einer der gewaltigen Balken, die die Decke trugen, war gebrochen, wodurch die gesamte Deckenkonstruktion durchhing und deutlich aus der Waage gerutscht war, worin möglicherweise der Grund für das sonderbar missgestalt wirkende Äußere dieses ganzen Gebäudes zu suchen war. Mogens fragte sich sogar ganz automatisch, ob dasselbe nicht vielleicht auch auf alle anderen Gebäude der Stadt zutraf. War das, was er für den Beweis einer vollkommen fremdartigen, unbegreiflichen Dimension gehalten hatte, am Ende nur profaner Verfall? Er glaubte nicht wirklich an diese Erklärung, konnte sie aber auch nicht ganz von der Hand weisen. Was immer das Geheimnis dieser unterirdischen Stadt auch sein mochte - ob sie nun tatsächlich von Geschöpfen aus dem Bereich des Hundesterns errichtet worden war oder von Menschen dieser Welt -, eines waren sie ganz gewiss: unvorstellbar alt. Niemand hatte bisher eine Stadt untersucht, die fünftausend Jahre alt war, und somit wusste auch niemand, was eine derartige Zeitspanne anzurichten vermochte.
Noch etwas - gänzlich Unerwartetes - geschah: So sehr ihn der allgegenwärtige Verfall hier drinnen überraschte, so beruhigend wirkte er doch zugleich auf ihn. Der Gedanke, dass letzten Endes nicht einmal diese unheimlichen Zeugnisse einer fremdartigen Kultur der Zeit wirklich trotzen konnten, hatte etwas Versöhnliches. Graves' Große Alte mochten Götter sein, vom menschlichen Standpunkt aus, aber sie waren sterbliche Götter.
»Und nun?«, fragte er.
Miss Preussler fuhr unmerklich zusammen, als Mogens' Worte die unheimliche Stille durchbrachen. Irgendetwas in der Dunkelheit jenseits des Einganges fing den Klang seiner Stimme auf und warf ihn auf eine Art verzerrt und gebrochen zurück, der viele seiner Überlegungen von soeben ihrer Grundlage beraubte. Echos verändern sich nicht, nur weil das, was sie erzeugten, alt war.
»Ich bin nicht sicher«, antwortete sie - flüsternd, und das nicht, weil sie Angst hatte, gehört zu werden, vermutete Mogens, sondern um nicht erneut eines dieser Schauder machenden Echos zu erzeugen. »Es ging eine Treppe hinunter. Ziemlich weit«, fügte sie nach kurzem Zögern hinzu.
Statt zu antworten, stellte Mogens seine Lampe ab und begann in den Jackentaschen zu graben, bis er ein Streichholzbriefchen gefunden hatte. An der simplen Aufgabe, die Karbidlampe zu entzünden, wäre er um ein Haar gescheitert. Bisher hatte Tom diese kleinen Pflichten für sie übernommen, und Mogens brauchte fast eine Minute, um die einfache Mechanik zu ergründen, mittels derer er den Glaskolben nach oben schieben konnte, um den Docht zu erreichen. Bei Miss Preusslers Lampe war er dann schon deutlich schneller.
Auch im kalten Licht der beiden Grubenlaternen verlor der Raum nichts von seinem sichtlichen Alter. Mogens entdeckte nirgendwo auch nur eine Spur von Staub - ein weiteres Rätsel, das er vermutlich nie lösen würde -, aber dafür unübersehbare Anzeichen von Verfall. Die Wände waren überall gerissen, und der zerbrochene Tragbalken über ihren Köpfen war nicht allein: Gut die Hälfte der mächtigen Balken, die die Decke trugen, waren mehr oder weniger stark beschädigt. Mogens dachte besorgt an die heftigen Erdstöße zurück, die die Tempelkammer oben verwüstet hatten. Er verstand nicht allzu viel von Statik und Ingenieurskunst, aber er war ziemlich sicher, dass dieses Gebäude einer starken Erschütterung nicht standhalten würde.
Sie passierten mehrere Türen, die in benachbarte, ebenfalls vollkommen leere Räume von beinahe noch gewaltigeren Dimensionen führten, dann standen sie vor einer weiteren, diesmal geschlossenen Tür. Sie unterschied sich von allem, was sie bisher hier drinnen gesehen hatten, aber der Anblick war Mogens trotzdem nicht neu.
Sie war kleiner als ihre monströse eiserne Schwester oben in der Tempelkammer und bestand aus grobporigem, im Laufe der Jahrtausende fast zu Stein gewordenem Holz und hatte nur einen und nicht zwei Flügel, und dennoch war die Ähnlichkeit unübersehbar. In ihre Oberfläche waren dieselben, unheimlichen Zeichen und Symbole eingraviert, von denen Mogens nun vollkommen sicher war, dass es sich um nichts anderes als Warnungen handelte, und auch zu ihrer Rechten und Linken erhoben sich zwei monströse, steinerne Wächter: schreckliche Zwitter aus Mensch, Tier und fremdartiger Abscheulichkeit, die ihn - obwohl er sie nicht zum ersten Mal sah - nun bis ins Mark erschreckten.
»Wie schrecklich«, murmelte Miss Preussler neben ihm. »Welches kranke Hirn denkt sich so etwas aus?«
»Wahrscheinlich... ist es nur eine Warnung«, sagte Mogens schleppend. Es fiel ihm immer schwerer, dem Anblick dieser grässlichen Geschöpfe standzuhalten - aber vielleicht lag das gar nicht an der detailbesessenen Genauigkeit dieser in Stein gemeißelten, krakenköpfige Ungeheuer. Obwohl er sich mit schon fast verzweifelter Kraft dagegen wehrte, stieg plötzlich ein anderes Bild aus seiner jüngeren Erinnerung in ihm empor: Das eines nahezu identischen, wenngleich kleineren Wesens, dessen Abbild in das schwarze Holz eines Sarkophags hineingeschnitzt worden war...
»Eine Warnung.« Miss Preussler machte ein sonderbares Geräusch. »Dann sollten wir vielleicht besser darauf hören, wie?«, fragte sie - und trat mit einem entschlossenen Schritt zwischen den beiden gewaltigen Wächterstatuen hindurch, hob ihre Lampe und legte die gespreizten Finger der anderen Hand gegen die Tür.
Mogens fuhr so heftig zusammen, als hätte er einen elektrischen Schlag bekommen. Für den Bruchteil einer Sekunde war er felsenfest davon überzeugt, dass etwas Schreckliches geschehen würde - etwa dass die unheimlichen steinernen Wächter zu plötzlichem Leben erwachen und sich auf sie stürzen, der Boden sich auftun und die unglückliche Miss Preussler verschlingen oder die sonderbaren Symbole und Linien auf der Tür selbst mit einem Male hervorbrechen und sich wie ein Nest wuselnder Schlangen oder Würmer um sie wickeln würden, um sie zu erdrücken.