Mogens sah nachdenklich in die Richtung zurück, aus der er gekommen war. Ganz leise drang Miss Preusslers Stimme an sein Ohr. Er konnte nicht verstehen, was sie sagte, wohl aber den beruhigenden, sanften Klang ihrer Worte. Vielleicht hatte sie ja tatsächlich Erfolg, und es gelang ihr, das Vertrauen der jungen Frau zu erringen. Selbst dann würde sie noch eine enorme Belastung für sie darstellen, aber längst nicht mehr in dem Maße, wie sie es wäre, wenn man sie mit Gewalt zwingen müsste mitzukommen.
Plötzlich erschrak er vor seinen eigenen Gedanken. Sie waren hergekommen, um Menschen wie sie und andere, die ihr schreckliches Schicksal teilten, zu finden. Wieso suchte ein Teil von ihm jetzt angestrengt nach Gründen, sie hierlassen zu können? Hastig schüttelte er den Gedanken ab und zwang sich, seine Inspektion des Raumes fortzusetzen - auch wenn es nicht mehr allzu viel zu sehen gab. Was von den Wandmalereien und Fresken die gewaltsame Zerstörung überstanden hatte, war ihm genauso unverständlich und rätselhaft wie alles andere, was er im oberen Teil der Stadt gesehen hatte.
Mogens war nicht wohl bei der Vorstellung, seine Erkundung auf eigene Faust fortzusetzen und sich noch weiter von Miss Preussler und dem Mädchen zu entfernen, aber er musste ihr wohl oder übel noch ein wenig Zeit geben, und zumindest bis jetzt bestand kaum die Gefahr, sich zu verirren. Die Kammer hatte nur einen einzigen weiteren Ausgang, und Mogens nahm sich fest vor, spätestens dann kehrtzumachen, wenn er eine Abzweigung oder Kreuzung erreichte, an der er sich entscheiden musste, in welche Richtung er weitergehen sollte.
Die Entscheidung wurde ihm abgenommen. Gerade, als er sich in Bewegung setzen wollte, hörte er einen scharrenden Laut hinter sich, doch als er erschrocken herumfuhr, waren es nur Miss Preussler und das dunkelhaarige Mädchen, die hinter ihm die Kammer betraten. Mogens zog überrascht die Augenbrauen hoch. Miss Preussler hatte das Mädchen an der Hand ergriffen, aber nicht etwa, um es mit sanfter Gewalt hinter sich her zu ziehen, sondern einzig, um es zu führen. Ganz im Gegenteil klammerte sich das Mädchen mit der anderen Hand fest an ihren Oberarm, und seine ganze Haltung machte klar, dass es zwar immer noch sehr verängstigt war, aber ein gewisses Zutrauen gefasst hatte.
»Das ging ja schnell«, sagte er überrascht.
»Ich habe selbst nicht damit gerechnet«, gestand Miss Preussler, was sie aber nicht daran hinderte, ihn voller unübersehbarem Stolz anzublicken. Im nächsten Moment änderte sich etwas an ihrem Gesichtsausdruck. Sie wirkte eher nachdenklich, ein ganz kleines bisschen aber auch spöttisch, als sie fortfuhr: »Eigentlich hat sie sich fast sofort beruhigt, nachdem Sie fort waren, Professor.«
»So?«, fragte Mogens.
Miss Preusslers Lächeln wurde noch breiter und war jetzt eher ein schadenfrohes Grinsen, und Mogens verzichtete vorsichtshalber darauf, das Thema noch weiter zu vertiefen. Stattdessen zwang er ein beruhigendes Lächeln auf sein Gesicht und machte einen Schritt auf das Mädchen zu. »Du brauchst keine Angst mehr zu haben«, begann er. »Wir sind...«
Weiter kam er nicht. Das Mädchen keuchte erschrocken, ließ Miss Preusslers Arm los und war mit einem einzigen, raschen Schritt hinter ihr; abermals wie ein Kind, das sich erschrocken hinter dem Rücken eines Erwachsenen versteckt. Mogens blieb überrascht mitten im Schritt stehen, und auch Miss Preussler wirkte für einen Moment beinahe hilflos. Dann bedeutete sie ihm mit einem hastigen Blick, nicht näher zu kommen und drehte sich herum. Jedenfalls versuchte sie es. Das Mädchen klammerte sich jedoch plötzlich und mit solcher Kraft an ihr fest, dass sie fast Mühe hatte, nicht von den Füßen gerissen zu werden.
»Aber was ist denn nur los mit dir?«, rief sie. »Du musst keine Angst haben. Niemand tut dir etwas!«
Die Gegenwehr des Mädchens wurde eher noch heftiger; sie krallte sich jetzt mit beiden Händen in Miss Preusslers Kleid und versuchte gleichzeitig, sich hinter ihr zusammen zu kauern, mit dem Ergebnis, dass Miss Preussler nun tatsächlich um ihre eigene Balance ringen musste und zu stürzen drohte. Ganz automatisch trat Mogens auf sie zu und streckte die Arme aus, und das Mädchen stieß einen spitzen Schrei aus und krallte sich noch heftiger an sie.
»Professor, gehen Sie weg!«, keuchte Miss Preussler. »Rasch!«
Mogens war viel zu perplex, als dass er irgendetwas anderes hätte tun können. Verwirrt wich er zwei oder drei Schritte rücklings vor ihnen zurück, und das Mädchen beruhigte sich tatsächlich. Zwar klammerte es sich noch immer mit solcher Kraft an Miss Preussler fest, dass es ihr fast den Atem nahm, hörte aber zumindest auf zu schreien.
Dennoch wich er vorsichtshalber noch einen weiteren Schritt zurück und ließ die Arme sinken. Und tatsächlich beruhigte sich das Mädchen zusehends; vor allem, als Miss Preussler sich endlich irgendwie frei gemacht und sie ihrerseits in die Arme geschlossen hatte.
»Bleiben Sie zurück, Professor«, sagte Miss Preussler, ohne sich zu ihm herumzudrehen. Stattdessen begann sie dem Mädchen beruhigend mit der Hand über das Haar zu streichen, während sie sie mit dem anderen Arm fest an sich drückte. Das Mädchen erwiderte ihre Umarmung kaum weniger heftig als zuvor, aber sie ließ Mogens dennoch keine Sekunde lang aus den Augen. Möglicherweise, dachte er beunruhigt, war Miss Preusslers Bemerkung ja nicht ganz so scherzhaft gemeint gewesen, wie er sich eingebildet hatte.
»Ich glaube, wir bekommen ein Problem«, sagte er vorsichtig.
Miss Preussler reagierte genau so, wie er befürchtet hatte: Sie verzichtete zwar darauf, etwas zu sagen, aber der Zorn sprühende Blick, den sie ihm über die Schulter hinweg zuwarf, war beredt genug.
Mogens geduldete sich - oder versuchte es wenigstens. Und wahrscheinlich tat er Miss Preussler sogar Unrecht, denn die Schnelligkeit, mit der es ihr gelang, das vollkommen verängstigte Mädchen wieder zu beruhigen, war schon fast unheimlich. Vermutlich vergingen wenig mehr als zwei oder drei Minuten, bevor sie sich wieder zu ihm herumdrehte und ihm mit einem Nicken zu verstehen gab, dass sie weitergehen konnten, aber ihm kam es vor wie Stunden.
»Sagte ich schon, dass wir ein Problem bekommen?«, fragte Mogens.
»Ja«, antwortete Miss Preussler kühl. Mogens wartete einen Moment lang vergebens darauf, dass sie noch etwas hinzufügte, und drehte sich schließlich mit einem leicht trotzig wirkenden Schulterzucken herum.
»Sagen Sie ruhig Bescheid, wenn ich zu dicht vor Ihnen her gehe«, knurrte er. Das war albern, und er wusste es auch selbst, aber er hatte es einfach sagen müssen. Miss Preussler war auch klug genug, nicht direkt darauf zu antworten, doch Mogens entging keineswegs, dass sie erst losging, als er sich gute vier oder fünf Schritte von ihr und dem Mädchen entfernt hatte. Ihm lag eine weitere spitze Bemerkung auf der Zunge, aber er schluckte sie herunter.
Sie verließen die Kammer durch den einzigen anderen Ausgang, den es gab, und waren noch keine zehn Schritte weitergegangen, als sie an die erste Abzweigung gelangten. Spätestens hier, dachte Mogens, hätte er ohnehin Halt gemacht, um auf Miss Preussler zu warten, oder wäre umgekehrt. Unschlüssig blieb er stehen und blickte zuerst nach rechts, dann nach links. In beiden Richtungen setzte sich der bemalte Korridor ungefähr gleich weit fort, bevor er von einem weiteren Durchgang voller schwebendem grünem Licht verschlungen wurde.
»Und jetzt?«, fragte er, während er sich zu Miss Preussler und dem Mädchen herumdrehte. »Werfen wir eine Münze, oder haben Sie eine Lieblingsrichtung?«
Auch Miss Preussler war stehen geblieben. Sie führte das Mädchen jetzt wieder neben sich, hatte ihm aber schützend die Arme um die Schultern gelegt, und Mogens wusste im allerersten Moment nicht, was er von diesem Anblick halten sollte. Es war schwer zu sagen, was intensiver war, die Furcht, die wieder stärker in den dunklen Augen der Frau aufflammte, als sie sah, dass er stehen geblieben war und sich zu ihnen herumgedreht hatte, oder der Ausdruck von grimmiger Entschlossenheit auf Miss Preusslers Gesicht, ihre neue Adoptivtochter gegen jedwede Gefahr zu verteidigen - und auch gegen ihn. Vielleicht sogar insbesondere gegen ihn.