Er wusste auch nicht, was ihn mehr erschreckte.
Da er keine Antwort bekam, zuckte er nach einigen Sekunden abermals mit den Achseln, wandte sich wieder um und drehte sich wahllos nach links, um loszugehen. Wie erwartet, vergingen auch jetzt wieder ein paar Sekunden, bevor er Schritte hinter sich hörte, doch sie brachen schon nach wenigen Augenblicken wieder ab. Als er hinter sich blickte, stellte er fest, dass Miss Preussler angehalten hatte. Das Mädchen hatte sich aus ihrer Umarmung gelöst und zerrte heftig an ihrer Hand. Sie gab nicht den mindesten Laut von sich, schüttelte aber immer hektischer den Kopf und gestikulierte dabei mit der freien Hand in die entgegengesetzte Richtung.
»Anscheinend hat sie Angst vor dem, was dort vorne ist«, sagte Miss Preussler. »Vielleicht sollten wir besser auf sie hören.«
Mogens blickte unentschlossen einen Moment in das grüne Licht am Ende des Korridors. Ihm persönlich machte hier unten so ziemlich alles Angst, aber er konnte in dem sonderbar fließenden Schimmer nichts Außergewöhnliches wahrnehmen. Was nichts bedeuten musste. Dieses unheimliche Licht zeigte einem alles, wenn man nur lange genug hinein sah. Und wer immer diese junge Frau auch war, sie kannte sich ganz bestimmt besser hier aus als sie. Dennoch sträubte sich alles in Mogens gegen die Vorstellung, ihrer beider Leben in die Hand einer jungen Frau zu legen, die ihnen nicht nur vollkommen unbekannt, sondern möglicherweise auch nicht mehr Herrin ihres Verstandes war.
Der Boden unter seinen Füßen zitterte; ganz sacht nur, eigentlich war es eher ein rasches Erschauern und kein wirklicher Erdstoß. Dennoch drang in der nächsten Sekunde ein tiefes, mahlendes Knirschen aus der Erde herauf, ein Geräusch, das Bilder von kontinentalgroßen Gesteinsplatten vor Mogens' innerem Auge entstehen ließ, die sich mit Urgewalt aneinander rieben, bis sie sich gegenseitig zermalmt hatten, von zusammenstürzenden Gebirgen und unterirdischen Feuerströmen, aus denen rot glühende Lava emporschoss. Mit einer enormen Willensanstrengung gelang es ihm, die Schreckensvisionen fast so schnell wieder abzuschütteln, wie sie entstanden waren, und möglicherweise hätte er es sogar geschafft, das ganze Beben als bloße Einbildung abzutun, doch unwirklicherweise war die Wirklichkeit gegen ihn. Hinter ihm sog auch Miss Preussler erschrocken die Luft ein, und von der Decke rieselten plötzlich kleine Staubfahnen. Irgendwo, sehr weit entfernt, stürzte etwas polternd um.
»Also gut«, sagte er. »Nehmen wir den anderen Gang.« Er wollte unverzüglich loseilen, blieb aber schon nach dem ersten Schritt wieder stehen, als das Mädchen abermals erschrocken die Augen aufriss und sich schützend hinter Miss Preussler verbarg. Erst als die beiden Frauen wieder in den anderen Gang zurückgewichen waren und den Abstand zwischen sich und ihm auf ein gutes halbes Dutzend Schritte vergrößert hatten, beruhigte sie sich wieder.
»Vielleicht sollten wir besser vorausgehen«, sagte Miss Preussler. »Aus irgendeinem Grund scheint sie Angst vor Ihnen zu haben, Professor.«
»Kommt nicht in Frage«, entschied Mogens. Noch bevor Miss Preussler Gelegenheit fand, zu widersprechen - oder einfach zu tun, wonach ihr der Sinn stand, was ohnehin auf dasselbe hinauslief -, eilte er an ihr vorbei und in die jenseitige Fortsetzung des Korridors. Auch das war nicht besonders klug, wie er sich eingestehen musste. Miss Preusslers Vorschlag war durchaus vernünftig. Sie konnten schwerlich an jeder Abzweigung oder Kreuzung dieses komplizierte Manöver wiederholen, nur weil das Mädchen jedes Mal in Panik zu geraten drohte, wenn er ihm zu nahe kam. Mogens eilte trotzdem weiter. Es war ihm mittlerweile gleich, ob er sich klug verhielt oder nicht. Es war auch alles andere als klug gewesen, überhaupt hierher zu kommen.
Erst als er das Ende des Ganges erreicht hatte, wurde er wieder langsamer und hob zugleich die linke Hand, damit Miss Preussler und ihre Begleiterin ebenfalls ihre Schritte verlangsamten. Hinter der Tür war schemenhaft zu erkennen, dass sich dort keine weitere Kammer erstreckte, sondern ein offensichtlich enorm großer, ausschließlich von dem lebendigen grünen Licht erhellter Raum. Der üble Geruch, der sie auf Schritt und Tritt begleitete, war ihm mittlerweile schon fast nicht mehr aufgefallen, nun aber schlug er ihm verstärkt so ekelhaft entgegen, dass sein Magen zu revoltieren begann. Mogens verhielt für einen Moment im Schritt, atmete gezwungen tief ein und aus - was sich als keine wirklich gute Idee erwies, denn der Strom an bitterer Galle, die sich unter seiner Zunge sammelte, nahm eher noch zu - und bedeutete Miss Preussler zugleich mit einer entsprechenden Handbewegung, ganz stehen zu bleiben. Er drehte sich nicht zu ihr herum, ging aber erst weiter, als das Geräusch ihrer Schritte tatsächlich verstummt war.
Er hatte sich nicht getäuscht. Zwar befand sich hinter der Tür keine weitere Höhle, sondern wieder eine Kammer mit sorgsam behauenen und bemalten Wänden, doch war der Raum von gewaltigen Dimensionen. So weit Mogens dies überhaupt erkennen konnte, musste er mindestens dreißig oder vierzig Meter breit und um ein Mehrfaches länger sein.
Allerdings war dies eine bloße Schätzung, denn der unterirdische Saal war nahezu vollkommen eingestürzt.
Die Wände waren überall geborsten, wo der Stein unter dem unvorstellbaren Druck nachgegeben hatte, der auf ihn ausgeübt worden war. Die Decke, einst prachtvoll bemalt und von einem wahren Wald meterdicker Steinsäulen gestützt, hing an zahlreichen Stellen durch wie eine viel zu dünne Zeltplane, auf der sich das Regenwasser gesammelt hatte, und schien weiter hinten in der Halle gänzlich niedergebrochen zu sein; genau sagen konnte Mogens das nicht, denn das grüne Licht nahm im gleichen Maße ab, in denen die Spuren gewaltsamer Zerstörung mehr wurden, als hätten die sonderbaren Pflanzen ihre natürliche Leuchtkraft im gleichen Moment eingebüßt, in dem sie gewaltsam von ihrem Untergrund losgerissen worden waren.
Darüber hinaus wurde seine Aufmerksamkeit fast gänzlich von etwas gefesselt, das ihn zumindest im allerersten Moment noch weitaus mehr erschreckte als die Spuren, die das Erdbeben hinterlassen hatte. Es gab in dieser Halle nicht nur Trümmer...
Schon in dem kleinen Bereich unmittelbar hinter der Tür, den Mogens genau überblicken konnte, befand sich nahezu ein halbes Dutzend Ghoule. Keines der unheimlichen Geschöpfe regte sich. Die meisten kauerten in derselben, nahezu absurd anmutenden Gebetshaltung am Boden wie das erste der unheimlichen Geschöpfe, auf das sie hier unten gestoßen waren, mindestens zwei jedoch lagen auch in seltsam verrenkter Haltung da.
»Professor?«, fragte Miss Preussler. Ihre Stimme klang beunruhigt.
»Bleiben Sie da«, antwortete Mogens. »Wenigstens einen Moment.«
Mit heftig klopfendem Herzen bewegte er sich weiter in den Raum hinein. Er bedauerte jetzt, seine Lampe nicht angezündet zu haben, aber er wagte es zugleich auch nicht, dieses Versäumnis nachzuholen, denn obwohl er die Zündholzschachtel griffbereit in der linken Hand hielt, hätte das bedeutet, den Blick - und sei es nur für eine Sekunde - von den reglos da hockenden Ghoulen zu wenden. Und das wagte er nicht, denn er war aller Logik zum Trotz vollkommen sicher, dass sich die Ungeheuer im gleichen Sekundenbruchteil auf ihn stürzen müssten, in dem er nicht mehr in ihre Richtung sah. Im Grunde war das, was er tat, vollkommener Wahnsinn. Er konnte allein in seiner direkten Nähe sechs, acht, schließlich zehn der unheimlichen Geschöpfe ausmachen, und noch mehr in dem schwächer erhellten Teil des Raumes. Seine Knie zitterten mittlerweile so heftig, dass er Mühe hatte, einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Dennoch ging er weiter. Keines der unheimlichen Geschöpfe nahm auch nur Notiz von ihm, obwohl Mogens auch diesmal dieselbe, beunruhigende Beobachtung machte wie vorhin: Die Ghoule schienen nicht zu schlafen oder bewusstlos zu sein. Die Augen der grässlichen Geschöpfe standen offen, und er hörte ihre rasselnden, schweren Atemzüge, manchmal auch etwas wie ein Keuchen.