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Er war zur Todesfalle geworden. Mogens zählte auf Anhieb mindestens ein halbes Dutzend Gestalten, die mit zerschmetterten Gliedmaßen und Körpern in ihrem Blut dalagen. Mogens nahm an, dass sich die Frauen - es waren ausnahmslos Frauen, so weit er das auf den ersten Blick beurteilen konnte - hierher geflüchtet hatten, als der Saal rings um sie herum zusammenzustürzen begann. Der stehen gebliebene Pfeiler hatte sie davor bewahrt, von der Decke zermalmt zu werden, die sich überall rings um sie herum wie der Stempel einer überdimensionalen Presse herabgesenkt hatte, sie aber dennoch nicht retten können. Die Decke war nicht zur Gänze zusammengebrochen, trotzdem aber überall geborsten, sodass ein tödlicher Regen aus Steinquadern und Staub auf das halbe Dutzend unglückseliger Frauen heruntergestürzt war. Das Schicksal hatte ihnen noch zwei oder drei zusätzliche Sekunden geschenkt, aber nur, um sie dann umso grausamer zu treffen.

»Sind das... die Frauen, die Sie gesehen haben?«, fragte er stockend. Seine Stimme versagte fast.

»Ich... glaube«, antwortete Miss Preussler, ebenso leise und stockend wie er, und mit offensichtlich ebenso großer Mühe. Sie fuhr sich mit einer fahrigen Handbewegung über Kinn und Lippen. »Aber ich... bin nicht sicher, ob...« Ihre Stimme versagte endgültig. Mogens konnte ihre Verunsicherung verstehen. Der Tod war sicher schnell über das halbe Dutzend Frauen gekommen, aber nicht leicht. Sie waren buchstäblich gesteinigt worden und boten einen furchtbaren Anblick. Das einzig lebende Wesen in dem asymmetrisch geformten Hohlraum war das dunkelhaarige Mädchen, das zwei oder drei Schritte entfernt auf den Knien saß und sich leicht vor und zurück wiegte. Wenigstens hatte sie aufgehört zu schreien.

»Kümmern Sie sich um sie«, sagte Mogens. »Bitte.« Während Miss Preussler endlich ihre Starre überwand und auf das Mädchen zuging, raffte auch Mogens all seinen Mut zusammen und ließ sich neben dem ersten Leichnam in die Hocke sinken. Die Bewegung wurde von einem leisen, aber durchdringenden Knacken begleitet. Mogens redete sich zumindest ein, dass es seine Kniegelenke waren, und nicht die Decke über seinem Kopf.

Er hatte sich nicht getäuscht. Die Frau war tot, erschlagen von einem der zahllosen Trümmerstücke, die von der Decke gestürzt waren, und dem weit mehr überraschten als qualvollen Ausdruck auf ihrem Gesicht nach zu urteilen schien es zumindest schnell gegangen zu sein. Es fiel Mogens schwer, ihr Alter zu schätzen. Sie war nicht so jung wie das Mädchen, von Miss Preusslers Alter aber ungleich weiter entfernt als von dem seinen, wirkte aber dennoch zugleich auf eine Weise gebrechlich und ausgezehrt, als hätte das Leben mehr von ihr verlangt als von anderen selbst in einer mehrfachen Spanne der Jahre, die sie durchlitten hatte.

»Professor«, sagte Miss Preussler.

Mogens ignorierte sie und wandte sich der nächsten Toten zu. Und der nächsten. Und der nächsten.

Es war vielleicht das Entsetzlichste, was er jemals hatte tun müssen, aber Mogens zwang sich, jeden einzelnen Leichnam zumindest flüchtig zu untersuchen, schon, um auch sicher zu sein, dass auch tatsächlich kein Leben mehr in ihnen war - auch wenn er sich gleichzeitig dabei ertappte, beinahe schon panisch auf die Vorstellung zu reagieren, tatsächlich noch eine Überlebende zu finden, oder sogar mehr als eine.

»Professor!«, sagte Miss Preussler noch einmal. Ihre Stimme klang ein wenig schrill. Dennoch setzte Mogens seine Untersuchung fort, bis er sich davon überzeugt hatte, dass es tatsächlich keine Lebenden mehr gab, was ihn mit einem sonderbar zwiespältigen Gefühl erfüllte: einer Mischung aus dumpfer Trauer und einem seltsam ziellosen Zorn, aber auch einer spürbaren Erleichterung, für die er sich heftig schämte, die aber dennoch da war.

»Professor!«, sagte Miss Preussler zum dritten Mal, und diesmal glaubte Mogens auch in ihrer Stimme einen leisen Unterton von Panik wahrzunehmen. Alarmiert sah er auf - und seine Augen weiteten sich ungläubig.

Das Mädchen saß noch immer auf den Knien und wiegte sich langsam vor und zurück. Seine Augen waren geschlossen, und es presste ein schmales, in Lumpen gehülltes Bündel an die Brust. Mogens glaubte zu hören, dass sie ein leises, rhythmisches Summen von sich gab.

Von einem unguten Gefühl erfüllt, stand er auf und trat auf sie zu, und aus diesem unguten Gefühl wurde blankes Entsetzen, als er sah, was sich in dem Bündel befand, das sie mit so verzweifelter Kraft an sich presste.

Es war ein Kind.

Und zugleich auch nicht.

Ganz zweifellos handelte es sich um einen Säugling von allerhöchstens drei oder vier Monaten, aber ebenso zweifellos war es auch kein menschliches Baby. Seine Haut war von einem dichten, hellbraunen Flaum bedeckt, der später zu einem borstigen Fell werden würde. Seine Hände, so winzig sie auch noch sein mochten, ähnelten schon jetzt deutlich eher Raubtierklauen als menschlichen Fingern, und wo sein Gesicht sein sollte, starrte Mogens der dreieckige Schädel eines Schakals an.

Es war ein Ghoul.

48.

Sicher eine halbe Minute, wenn nicht länger, stand Mogens einfach da und starrte das grässliche Geschöpf an, das in den Armen des Mädchens lag. Er hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren, aber diesmal lag es nicht an einem neuen Erdstoß oder Beben. Alles drehte sich um ihn.

Das Entsetzen, das er nun verspürte, war von einer gänzlich anderen, neuen Art, und es hatte seine Wurzeln weniger in dem, was er sah, als in dem, was es bedeutete - auch wenn dieser Gedanke einfach zu grotesk und zugleich zu grauenerregend war, als dass er ihm gestattete, ganz Gestalt anzunehmen.

Und er war noch nicht einmal das Schlimmste... »Es ist tot, Professor«, sagte Miss Preussler mit leiser, tonloser Stimme. »Sehen Sie.« Sie trat - unendlich vorsichtig - auf das Mädchen zu und streckte die Hände nach dem blutigen Bündel in seinen Armen aus, kam ihm aber nicht einmal nahe genug, um es zu berühren. Das Mädchen prallte erschrocken zurück und presste den Säugling nur noch fester an sich. Hätte Mogens der bloße Anblick im allerersten Moment nicht einfach zu sehr schockiert, hätte er es sofort bemerkt:

Das Ghoul-Kind war ebenso tot wie alle anderen hier, erschlagen von der heruntergestürzten Decke oder vielleicht auch unter Schutt und Staub erstickt. Die zerschlissenen Lumpen, in die es eingewickelt worden war, waren schwer und nass von Blut, und auch aus dem leicht geöffneten Maul, in dem schon jetzt eine doppelte Reihe winziger, aber nadelspitzer Zähne blitzte, war ein dünnes, braunrot verkrustetes Rinnsal gelaufen.

Die Erde zitterte, diesmal so leicht, dass Mogens die Erschütterung kaum spürte. Trotzdem rieselte Staub von der Decke, und nur einen Moment später hörten sie einen tiefen, grollenden Laut, der weniger aus dem Boden unter ihren Füßen zu kommen schien als vielmehr aus der Luft selbst.

»Wir müssen hier raus«, sagte Mogens nervös. »Bitte, Miss Preussler - Sie müssen sie irgendwie beruhigen. Bringen Sie sie dazu, dieses... Ding wegzulegen.«

Erwartungsgemäß warf ihm Miss Preussler einen strafenden Blick zu, und auch Mogens selbst bedauerte seine Worte fast - aber er brachte es einfach nicht fertig, von diesem grässlichen Geschöpf als Kind zu sprechen. Während er irgendwie versuchte, seine Aufmerksamkeit zwischen Miss Preussler und dem Mädchen mit seiner schrecklichen Last aufzuteilen und zugleich auf ein verdächtiges Knacken im Fels oder ein Zittern des Erdbodens unter seinen Füßen zu lauschen, jagten sich in seinem Hinterkopf die Gedanken. Was er sah, brachte ihn nahe an den Rand purer Hysterie. Zwar versuchte ihm sein Verstand zu erklären, dass es ein Dutzend anderer und logischerer Erklärung für das gab, was er sah, aber etwas sagte ihm zugleich mit unerschütterlicher Gewissheit, dass keine davon zutraf, und es für diesen entsetzlichen Anblick nur eine einzige Deutung gab, so vollkommen widersinnig sie auch klingen mochte.