»Nur wenn Sie den ›Professor‹ weglassen, Doktor Mercer«, sagte er lächelnd. »VanAndt.«
Mercer verzog übertrieben das Gesicht. »Dann finde ich ›Professor‹ doch bedeutend einfacher«, meinte er. »Ein holländischer Name?«
»Nein, belgisch«, entgegnete Mogens, ein Scherz, den er schon seit seiner Studentenzeit nicht mehr gemacht hatte. Fast niemand auf dieser Seite der Welt wusste, dass das kleine Belgien seinerseits wiederum aus zwei ethnischen Volksgruppen bestanden, die noch dazu äußerst eifersüchtig auf ihrer jeweiligen kulturellen Identität beharrten. So mancher, dem sich Mogens auf diese Weise vorgestellt hatte, hatte verstört reagiert und vielleicht insgeheim gemutmaßt, dass er aus Transsylvanien stammen und ein direkter Nachkomme von Vlad dem Pfähler sein müsse.
Mercer überraschte ihn jedoch erneut. »Ein Flame«, sagte er fröhlich. »Willkommen in der Neuen Welt!«
Diesmal war es Mogens, der das Gesicht verzog. »Dann doch lieber Professor«, sagte er. »Und ich bin nur in Europa geboren. Meine erste Erinnerung ist die an einen schmuddeligen Hinterhof in Philadelphia.«
»Na, dann müssten wir uns eigentlich kennen«, behauptete Mercer.
»Sie stammen ebenfalls aus Philadelphia?«, fragte Mogens.
»Nein.« Mercer grinste. »Aber ich war auch noch nie in Europa.«
Mogens lachte, aber es musste wohl etwas gezwungen ausgefallen sein, denn auch Mercers Grienen hielt nur noch einen kurzen Moment, bevor er Mogens' Hand losließ, sich leicht verlegen räusperte und einen halben Schritt zurücktrat.
»Gut«, sagte er. »Nachdem ich die Begrüßung hinlänglich versaut habe, können wir ebenso gut weitermachen, und ich stelle Ihnen den Rest der Mannschaft vor.«
»Ihre Kollegen?«, vermutete Mogens.
Mercer streckte den linken Daumen in die Höhe. »Einen Kollegen«, sagte er. »Und eine Kollegin. Wir sind hier nur zu viert - zu fünft, jetzt, wo Sie zu uns gestoßen sind.« Er wedelte aufgeregt mit der Hand. »Kommen Sie, Professor. Die einzige Dame in unserer Runde ist schon ganz begierig darauf, Sie kennen zu lernen.« Mogens sah sich unschlüssig um, aber Mercer kam seinem Widerspruch zuvor.
»Diese Luxussuite läuft Ihnen nicht davon«, sagte er. »Außerdem wird Tom Ihre Koffer bestimmt nicht auspacken. Er ist ein angenehmer Bursche, aber ein wahrer Meister im Erfinden von Ausreden, wenn es darum geht, sich vor einer Arbeit zu drücken.«
Mogens resignierte, zumal Mercer durchaus Recht hatte: Seine Unterkunft lief ihm nicht davon, und auch er war begierig darauf, seine neuen Kollegen kennen zu lernen - und natürlich endlich zu erfahren, warum er eigentlich hier war.
So folgte er Mercer, als dieser die Blockhütte verließ und sich nach links wandte. Er erwartete, dass sich sein Führer einem der anderen Häuser zuwenden würde, die sich - mit Ausnahme einer einzigen, etwas abseits stehenden Blockhütte, die deutlich größer war - nicht von seiner eigenen Unterkunft unterschieden, aber Mercer ging schnurstracks auf das Zelt zu, das sich in der Mitte des Lagerplatzes erhob.
Während Mogens ihm folgte, fiel ihm erneut auf, wie sonderbar sich der Boden unter seinen Füßen anfühlte. Es waren nicht nur die quatschenden Geräusche, die seine Schritte verursachten. Er musste an das denken, was Mercer gerade gesagt hatte: Er hatte tatsächlich das Gefühl, über einen riesigen Schwamm zu gehen. Und Mercers Erklärung machte das Gefühl nicht angenehmer; ganz im Gegenteil.
Mercer betrat das Zelt als Erster, hielt mit der linken Hand die Plane zurück und bedeutete ihm gleichzeitig mit der anderen, vorsichtig zu sein, eine Warnung, die sich als durchaus begründet erwies. Vor ihnen gähnte ein gut zwei Meter durchmessendes, kreisrundes Loch im Boden, aus dem das Ende einer schmalen hölzernen Leiter emporragte. Es gab weder ein Geländer noch irgendeine andere Vorrichtung, die der Sicherheit diente, und als Mogens sich schaudernd vorbeugte und nach unten sah, erkannte er, dass der Schacht mindestens dreißig Fuß in die Tiefe reichte, wenn nicht noch mehr.
»Man gewöhnt sich daran«, sagte Mercer. Mogens' Schaudern war ihm keineswegs verborgen geblieben. »Sie sind doch schwindelfrei, hoffe ich.«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Mogens wahrheitsgemäß. »Als Archäologe arbeitet man selten in luftigen Höhen.«
»Nach ein paar Tagen macht es Ihnen nichts mehr aus«, versicherte Mercer. Er griff nach der Leiter, schwang seine gewaltige Körperfülle mit erstaunlicher Leichtigkeit auf die oberste Sprosse und stieg drei, vier Stufen weit nach unten, bevor er wieder Halt machte und Mogens einen auffordernden Blick zuwarf, es ihm gleich zu tun. »Nur keine Sorge, Professor«, sagte er spöttisch. »Die Leiter ist stabil. Gute amerikanische Wertarbeit.«
Mogens lächelte pflichtschuldig, aber er rührte sich trotzdem nicht, bis Mercer fast zur Hälfte den Schacht hinabgeklettert war, bis auch er zögernd nach der Leiter griff und mit dem Fuß nach der obersten Stufe tastete. Die Leiter ächzte tatsächlich hörbar unter Mercers Gewicht, aber das war nicht der wahre Grund seines Zögerns. Tatsache war, dass er Mercers Frage gerade nicht ganz wahrheitsgemäß beantwortet hatte.
Mogens war alles andere als schwindelfrei. Ihm wurde im Gegenteil normalerweise schon beim bloßen Anblick eines hohen Gebäudes mulmig, und auch nur die dreistufigen Trittleitern vor den Regalen in der Universitätsbibliothek zu benutzen, bereitete ihm körperliches Unbehagen. Es kostete ihn all seine Kraft, auf die Leiter zu treten und hinter Mercer nach unten zu klettern. Seine Hände und Knie zitterten, als er neben Mercer in der Tiefe anlangte, und sein Atem ging so schnell, als wäre er eine Meile weit um sein Leben gerannt. Er blieb ein paar Sekunden mit geschlossenen Augen stehen und wartete, bis sich sein hämmernder Herzschlag wieder beruhigt hatte.
»Man gewöhnt sich daran«, sagte Mercer noch einmal, als Mogens die Augen wieder öffnete und sich mit klopfendem Herzen umsah. Es waren dieselben Worte, aber sein Tonfall hat sich verändert. Mogens hörte nun echtes Mitgefühl in seiner Stimme, vielleicht sogar eine Spur von Sorge.
»Ich war nur... ein wenig überrascht«, sagte er nervös. »Damit habe ich nicht gerechnet.«
Mercer sah ihn noch einen Herzschlag lang durchdringend an und wechselte dann mit einem unbehaglichen Räuspern das Thema. »Von jetzt an geht es nur noch geradeaus. Kommen Sie.«
Mogens warf noch einen unbehaglichen Blick in die Runde, bevor er sich seinem Führer anschloss. Der Schacht, der oben kreisrund war und einen Durchmesser von gut sieben Fuß hatte, erweiterte sich hier zu einer asymmetrischen Höhle von der gut doppelten Größe. Ein Teil der Wände bestand aus verwittertem grauem Fels. Die Konsistenz des Restes war nicht zu erkennen, denn er war mit groben Brettern abgestützt, zwischen denen hier und da kleine Rinnsale hervorsickerten, die sich am Boden zu ölig schimmernden Pfützen sammelten. Mogens sah stirnrunzelnd auf seine Schuhe hinab. Der Morast, über den er sich gerade geärgert hatte, war verschwunden, aber dafür waren sie nun völlig durchnässt.
»Ich fürchte, das ist meine Schuld«, sagte Mercer in einem Ton ehrlichen Bedauerns. »Ich hätte Sie warnen sollen. Aber wir haben uns alle schon so sehr daran gewöhnt...« Er hob entschuldigend die Schultern.
»Das... macht nichts«, sagte Mogens. Was Unsinn war. Die Schuhe, die er trug, waren nicht nur sein bestes, sondern zugleich auch sein einziges Paar. »Wohin führt dieser Gang?«, fragte er mit einer entsprechenden Geste auf einen knapp fünf Fuß hohen, sorgsam mit Brettern und fast armdicken, gehobelten Balken abgestützten Tunnel, der unmittelbar hinter Mercer tiefer in die Erde hineinführte. An seinem Ende schimmerte ein blasses, gelbes Licht.
»Wir haben hier überall elektrischen Strom«, sagte Mercer, dem Mogens' erstaunter Blick keineswegs entgangen war. »Graves hat einen Generator herbeischaffen lassen, der das ganze Lager versorgt, sowohl ober- als auch unterirdisch.« Er nickte gewichtig. »Man kann gegen den guten Doktor sagen, was man will, aber was er anpackt, das macht er richtig.«