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»Sie haben Recht, Professor«, sagte Miss Preussler unsicher. »Ich... versuche es.«

Man sah ihr an, wie unwohl sie sich fühlte, als sie zum zweiten Mal auf das Mädchen zutrat und - sehr viel behutsamer als gerade - die Hand ausstreckte. Schrecken und Mitleid standen noch immer überdeutlich in ihrem Gesicht geschrieben, aber der Anteil von Entsetzen darin nahm zu. »Du... musst es hier lassen, verstehst du?«, flüsterte sie. »Ich weiß, wie du dich fühlst. Es... es tut mir unendlich Leid, aber... aber wir können dein Kind nicht mitnehmen.«

Das Mädchen duckte sich angstvoll, aber immerhin versuchte sie nicht mehr, vor Miss Preussler zurückzuweichen. Sie ließ es sogar zu, dass sie sie sanft in die Arme schloss, presste das blutige Bündel aber nur noch fester an sich.

Der Boden zitterte ganz leicht. Das grollende Geräusch wiederholte sich nicht, aber von der Decke rieselte mehr Staub, und nicht weit entfernt löste sich ein kopfgroßer Steinquader und krachte zu Boden.

»Miss Preussler«, sagte Mogens nervös.

»Du musst es hier lassen, verstehst du mich?«, fuhr Miss Preussler leise fort. Sanft strich sie dem Mädchen mit der Hand über das Haar. Sie duldete die Berührung, doch als Miss Preussler mit der anderen Hand nach dem Bündel in ihren Armen greifen wollte, riss sie sich los und sprang einen Schritt zurück. Ihre Augen blitzten, und sie gab einen Laut von sich, der fast wie das Fauchen einer zornigen Katze klang.

»Miss Preussler!«, sagte Mogens noch einmal. Sie machte eine unwillige Geste in seine Richtung, fuhr aber fort, beruhigend auf das Mädchen einzureden. Mogens wusste, wie sinnlos es war. Sie konnten ja noch nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob sie ihre Worte überhaupt verstand.

»Das hat keinen Sinn«, sagte er. Jetzt war nicht mehr der Moment für Geduld oder sanftmütiges Zureden. Wenn sie nicht innerhalb der nächsten Minuten hier heraus kamen, waren sie verloren. Entschlossen trat er auf Miss Preussler zu, schob sie kurzerhand zur Seite und streckte die Hände nach dem Kind aus.

Das Mädchen schrie gellend. Ihre Fingernägel, abgebrochen und schartig, aber zugleich auch scharf wie Rasierklingen, fuhren über Mogens' Handrücken und hinterließen tiefe, höllisch brennende Kratzer in seiner Haut, und er konnte gerade noch im letzten Moment den Kopf zurückwerfen, als sie aus der gleichen Bewegung heraus auch nach seinem Gesicht schlug. Ungeschickt stolperte er zur Seite und gegen den stehen gebliebenen Pfeiler, der unter seinem Anprall fühlbar erbebte. Mehr Staub rieselte von der Decke. Der Boden erzitterte, und diesmal hörte er nicht nach ein paar Sekunden wieder damit auf, sondern das Vibrieren und Schütteln hielt an, und auch das unheimliche Grollen und Stöhnen war wieder da. Mogens war jetzt sicher, dass es nicht das Geräusch von Felsmassen und Steinen war, die sich aneinander rieben, sondern tatsächlich die Luft selbst, die unter den unvorstellbaren Gewalten aufstöhnte, die sich tief unter ihnen im Herzen der Erde zusammenballten.

Mogens begriff mit einer Art sonderbar teilnahmslosem Entsetzen, dass es nicht sein Anprall gewesen war, der die Säule zum Erzittern gebracht hatte. Was er befürchtet hatte, bewahrheitete sich: Es war das nächste Beben, und obwohl der Boden unter ihnen nur ganz sacht erzitterte, spürte er doch, dass es nicht aufhören, sondern das Schlimmste bisher überhaupt werden würde. Aus dem vereinzelten Rieseln von Staub und winzigen Steinchen wurde ein anhaltendes, sandiges Geräusch, wie der Laut eines schmirgelnden Wasserfalls, in dessen Zentrum sie sich befanden, und er konnte den unbarmherzig größer werdenden Druck, der auf dem steinernen Pfeiler in seinem Rücken lastete, fast körperlich spüren.

»Raus hier!«, schrie er. Miss Preussler starrte ihn nur aus großen Augen an, und auch das Mädchen blieb weiter in seiner geduckten, abwehrbereiten Haltung stehen, das tote Kind schützend an die Brust gepresst und die andere Hand - tatsächlich zu einer Kralle verkrümmt - drohend halb erhoben. Irgendwo polterte ein Stein. Etwas streifte Mogens' Schulter und bohrte sich unmittelbar neben ihm mit solcher Gewalt in den Boden, dass ein Hagel winziger Steinsplitter gegen sein Bein prallte, und Mogens ließ alle Rücksicht fahren und war mit einem einzigen Satz wieder neben dem Mädchen. Ihre Fingernägel zielten nach seinen Augen, aber die schiere Todesangst gab Mogens nicht nur fast übermenschliche Kräfte, sondern auch eine ebensolche Schnelligkeit. Beinah mühelos packte er ihr Handgelenk, wirbelte auf dem Absatz herum und stürmte los, das Mädchen einfach hinter sich her zerrend. Aus den Augenwinkeln sah er, wie auch Miss Preussler endlich die Lähmung abschüttelte und sich ihnen anschloss, aber er konnte nur beten, dass sie sich auch diesmal mit der gleichen Behändigkeit und demselben Tempo bewegte wie vorhin.

Halb blind stürmte er in die Richtung los, in der er den Ausgang vermutete. Aus dem sachten Erschauern des Bodens war längst ein rüttelndes Stoßen geworden, dem der Rest der Halle die Antwort nicht lange schuldig blieb. Immer mehr Steine und Trümmer regneten von der Decke, und Mogens' Magen zog sich vor Entsetzen zu einem harten Ball zusammen, als er aus den Augenwinkeln zu sehen glaubte, wie sich auch einer der letzten übrig gebliebenen Stützpfeiler langsam zu neigen begann, wie ein Gewichtheber, der aller verzweifelten Mühe zum Trotz ganz allmählich in die Knie bricht. Verzweifelt versuchte er, noch schneller zu laufen. Vorhin, als er dem Mädchen und Miss Preussler gefolgt war, war ihm der Weg weit vorgekommen, jetzt schien er kein Ende mehr zu nehmen. Vielleicht rannten sie ja in die falsche Richtung, tiefer in den zusammenbrechenden Saal hinein, statt dem rettenden Ausgang entgegen. Die Lampe war keine Hilfe. Ihr Lichtschein tanzte so wild hin und her wie das Achterlicht eines Schiffchens, das unversehens in den urgewaltigsten aller Stürme geraten war, und was er in dem irrwitzigen Kaleidoskop aus aufblitzendem Weiß und nachtschwarzen Schatten sah, das verwirrte ihn mehr, statt ihm den Weg zu weisen. Steine regneten rings um sie herum zu Boden. Hinter ihnen erscholl ein ungeheures dröhnendes Poltern, als wäre eine ganze Wand der Halle zusammengebrochen, und die Schwärze über seinem Kopf kam näher. Dann stieß sein Fuß plötzlich ins Leere. Mogens versuchte instinktiv, sich zurückzuwerfen, um auf diese Weise vielleicht sein Gleichgewicht doch noch wieder zu erlangen, aber es war zu spät.

Er fiel, ließ das Handgelenk des Mädchens los und prallte so hart auf Schultern und Hinterkopf, dass ihm die Luft aus den Lungen gepresst wurde. Die Lampe entglitt seinen Fingern, schlug einen fast zeitlupenhaft anmutenden, doppelten Salto in der Luft und zerbrach, als sie auf dem Boden aufprallte. Mogens wartete auf eine Explosion oder eine Stichflamme, aber das Licht ging einfach nur aus.

Trotzdem wurde es nicht vollkommen dunkel. Nur ein kleines Stückchen vor ihm schimmerte es in sanftem Grün durch die Schwärze.

Halb benommen wälzte er sich herum, stemmte sich auf Hände und Knie hoch und versuchte den Staub wegzublinzeln, der ihm in die Augen gedrungen war. Er machte es nur schlimmer. Der Staub schmirgelte wie Sandpapier, und der Schmerz trieb ihm noch mehr Tränen in die Augen. Als befände er sich unter Wasser, sah er einen wie betrunken hin und her torkelnden Lichtfinger auf der anderen Seite der Schutthalde emporstechen und über die Decke streichen - Großer Gott, sie bewegte sich! -, und in all dem Chaos aus dröhnenden, krachenden, polternden und berstenden Lauten meinte er etwas wie ein qualvolles Wimmern irgendwo neben sich zu vernehmen, aber er sah nichts außer schierer Bewegung, die aus allen Richtungen zugleich auf ihn einstürmte.