Etwas von der Größe einer Holzfällerhütte löste sich aus der Decke und stürzte nur ein kleines Stück neben ihm mit solcher Gewalt zu Boden, dass Mogens hochgeschleudert und ein Stück zur Seite geworfen wurde. Er prallte auf etwas Weiches, das wie unter Schmerzen aufstöhnte, griff ganz instinktiv zu und riss das Mädchen mit sich in die Höhe, als er auf die Füße sprang. Hinter ihnen schlitterte Miss Preussler mit ebenso ungeschickt aussehenden wie schnellen Bewegungen die Böschung herab, und entgegen allem, was er selbst geglaubt hatte, kam Mogens nicht nur in die Höhe, sondern entdeckte auch den rettenden Ausgang, nur einige wenige Schritte vor sich.
Irgendwie schafften sie es. Mogens hätte nicht sagen können, wie - es waren nur Sekunden, weniger als zehn Schritte, die er auf den Ausgang zu torkelte und das sich heftig sträubende Mädchen mit purer Gewalt hinterher zerrte, aber es waren zugleich Ewigkeiten des Chaos, in denen sein bewusster Verstand einfach ausgeschaltet war und Instinkte und ein uralter Überlebenswille die Kontrolle über seinen Körper übernahmen.
Vermutlich rettete ihm das das Leben. Mogens konnte hinterher nicht sagen, wie oft er getroffen worden war, wie viele Schläge er hatte einstecken müssen, die unter normalen Umständen mehr als ausreichend gewesen wären, ihn niederzustrecken. Das zappelnde Mädchen immer noch mit eiserner Kraft festhaltend und dichtauf gefolgt von Miss Preussler, die ihm mit hysterischer Stimme irgendetwas zuschrie, was er nicht verstand, taumelte er in den rettenden Korridor und noch zwei oder drei Schritte weiter, bevor er gegen die Wand prallte und hilflos daran zu Boden sank.
Für einen Moment musste er wohl tatsächlich das Bewusstsein verloren haben, denn das Nächste, woran er sich erinnerte, war, halb liegend, halb mit Schultern und Hinterkopf gegen die Wand gestützt, die Augen wieder zu öffnen und in Miss Preusslers Gesicht hinaufzublicken, die unentwegt an seinen Schultern rüttelte und dabei immer dasselbe Wort schrie, das er erst nach ein paar Sekunden als »Professor!« erkannte.
»Es ist gut«, nuschelte er fast unverständlich. Seine Zunge wollte ihm nicht richtig gehorchen, und sein Mund war voller Staub. Mit einiger Mühe gelang es ihm, ihre Hand zur Seite zu schieben und sich halbwegs aufzusetzen. Wenigstens hörte sie auf, wie von Sinnen an seinen Schultern zu rütteln, wodurch sein Hinterkopf immer wieder gegen den harten Stein schlug.
»Geht es Ihnen gut, Professor?«, fragte Miss Preussler. Ihre Stimme bebte vor Sorge.
Mogens wollte antworten, konnte es nicht und versuchte sich zu räuspern, woran er um ein Haar erstickt wäre. Seine Kehle fühlte sich an, als wäre er von innen gehäutet worden.
»Geht es Ihnen auch wirklich gut?«, vergewisserte sich Miss Preussler. Mogens zwang sich unter qualvollem Husten und Atemringen zu etwas, was sie zumindest als Nicken deuten konnte, und erstaunlicherweise gab sie sich mit dieser wenig überzeugenden Lüge zufrieden. Nach einem letzten, abschätzenden Blick in sein Gesicht wandte sie sich um und ging zu dem Mädchen, das mit angezogenen Knien auf der anderen Seite des Ganges hockte und ein zerfetztes Bündel gegen die Brust presste. Das Dröhnen und Klingeln in seinen Ohren legte sich allmählich, und Mogens hörte jetzt, dass sie ein leises, auf- und absteigendes Summen von sich gab, in dessen Takt sie den Oberkörper vor und zurück wiegte. Der Anblick berührte ihn auf eine vollkommen unerwartete Weise so tief, dass er ihn nicht länger ertrug und hastig wegsah.
Allerdings war auch das, was er in der anderen Richtung erblickte, kaum erbaulicher.
Mogens war im ersten Moment fast froh, sich nicht mehr genau an die letzten Sekunden erinnern zu können. Auch der Gang hatte das Erdbeben nicht unbeschadet überstanden. Ein wirres Muster aus durcheinander laufenden Rissen und Sprüngen durchzog die Decke, und weiter zum Ausgang hin waren die Wände sichtbar zusammengedrückt. Der Saal, der dahinter liegen sollte, war nicht mehr da. Die Tür wurde von einer kompakten Masse aus Steintrümmern und Schutt ausgefüllt. Mogens rann noch im Nachhinein ein eisiges Frösteln über den Rücken, als er begriff, wie knapp sie einem grauenhaften Tod entronnen waren. Und die Gefahr war noch nicht vorbei.
Mogens räusperte sich - vorsichtiger - noch einmal und sagte mit belegter Stimme: »Wir müssen weiter. Ich bin nicht sicher, ob dieser Gang noch einem weiteren Erdstoß standhält.«
»Und was geschieht mit ihr?«, fragte Miss Preussler. »Sie wird das Kind nicht zurücklassen.«
»Dann soll sie es von mir aus mitnehmen«, seufzte Mogens resignierend. »Wir kümmern uns später darum.« Wichtig war jetzt nur, dass sie diese Todesfalle verließen, solange sie dazu noch in der Lage waren.
Mühsam arbeitete er sich an der Wand in die Höhe und lauschte einen Moment mit geschlossenen Augen in sich hinein. Er konnte sich nicht erinnern, sich jemals zuvor so schlecht gefühlt zu haben, nicht einmal nach dem Angriff der beiden Ghoule. Aber seine Kraft musste einfach reichen.
»Kommen Sie?« Ohne Miss Preusslers Reaktion oder die des Mädchens abzuwarten, wandte er sich um und begann mit kleinen, schweren Schritten den Gang zurückzuschlurfen. Erst an der Kreuzung blieb er stehen und sah zurück. Die beiden Frauen folgten ihm, wenn auch in großem Abstand und langsamer, als ihm lieb gewesen wäre. Mogens verbot sich, darüber nachzudenken, wie viel Zeit ihnen noch bis zum nächsten Erdstoß blieb, und wie hart dieser vielleicht wurde.
Er ereilte sie, als sie die Treppe fast erreicht hatten, und es war der härteste bisher überhaupt. Der gesamte Gang zuckte und wand sich rings um sie herum wie eine riesige, steinerne Schlange, und aus der Tiefe des Labyrinths drang ein nicht enden wollendes dröhnendes Bersten und Poltern. Mogens war zu müde, um noch wirklich zu erschrecken. Er wartete einfach ab, bis der Boden seine Versuche einstellte, ihn abzuschütteln wie ein bockendes Pferd seinen Reiter, und bedeutete Miss Preussler dann mit einer müden Geste, vorauszugehen.
Sie zögerte. »Aber da sind noch mehr...«, begann sie.
»Ich weiß«, unterbrach sie Mogens in fast resignierendem und vielleicht gerade deshalb umso nachdrücklicherem Ton. »Aber wir können nicht zurück. Seien Sie froh, wenn wir sie retten können.«
Miss Preussler maß das dunkelhaarige Mädchen und seine schreckliche Last mit einem langen, traurigen Blick und deutete schließlich ein Nicken an. Wortlos ergriff sie sie am Arm und wollte an Mogens vorbeigehen, aber das Mädchen versteifte sich sofort und starrte Mogens aus weit aufgerissenen, erschrockenen Augen an. Vermutlich hatte er auch noch den allerletzten Rest ihres Vertrauens verspielt, als er versucht hatte, ihr das Kind wegzunehmen. Wortlos drehte er sich herum und begann als erster die Treppe hinauf zu steigen.
49.
Nein, es war keine Einbildung: Die Treppe war länger geworden, und es kostete ihn erheblich mehr Mühe, sie nach oben zu steigen, als er selbst angesichts seines geschwächten Zustandes erwartet hätte. Es vergingen auch nur wenige Augenblicke, bis er eine Erklärung für diese scheinbare Unmöglichkeit fand: Durch die andauernden Erdstöße musste sich der gesamte unterirdische Teil des Labyrinths um mehrere Meter abgesenkt haben, und eine Laune des Zufalls hatte es gewollt, dass der Treppenschacht nicht zusammengebrochen war, sondern sich wie ein übergroßer Gummischlauch gedehnt hatte, allerdings mit katastrophalen Folgen: Etliche Stufen waren weggebrochen oder so absurd auseinander gezogen, dass Mogens es nicht mehr wagte, sie mit seinem Körpergewicht zu belasten. Der Weg nach oben gestaltete sich dadurch noch mühsamer und kräftezehrender, als er ohnehin befürchtet hatte. Mogens war fast überrascht, als er endlich die letzte Stufe bewältigt und das Tor erreicht hatte.
Vollkommen ausgelaugt ließ er sich zu Boden sinken. Selbst die kleine Bewegung, den Kopf zu drehen und zu Miss Preussler und dem Mädchen zurückzublicken, verlangte ihm eine fühlbare Anstrengung ab.