»Ich«, antwortete Mogens. Plötzlich drohte seine Stimme zu versagen. Es fiel ihm immer schwerer, Graves anzusehen, und noch schwerer, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. »Ich«, flüsterte er noch einmal.
»Ich weiß«, antwortete Graves. »Du wärst vielleicht der Einzige gewesen, mein Freund. Weil du sie gesehen hast. Aber ich konnte es dir nicht sagen.«
»Warum?«, murmelte Mogens. Brennende Hitze schoss ihm in die Augen, aber er schämte sich dieser Tränen nicht.
»Du warst noch nicht so weit«, antwortete Graves. »Was hätte ich dir sagen sollen? Dass ich weiß, was mit Janice passiert ist?« Er schüttelte heftig den Kopf. »Du wärst daran zerbrochen, Mogens. Ich konnte es dir nicht sagen.«
Mogens erwiderte nichts mehr darauf, und wie hätte er es auch gekonnt? Seine Stimme versagte ihm endgültig den Dienst, und die Tränen liefen nun frei und ungehemmt über sein Gesicht. In seiner Brust tobte ein Orkan von Gefühlen. Aber er versuchte vergeblich, auch nur eine Spur von Hass oder auch nur Zorn darin zu finden, der Graves galt. Graves hatte Recht. Selbst wenn er ihm geglaubt hätte, so wäre er an diesem Wissen zerbrochen. Vielleicht war das Einzige, was ihn in den zurückliegenden neun Jahren am Leben erhalten hatte, tatsächlich die Hoffnung gewesen, Janice könnte noch leben, und er könnte sie eines Tages wiedersehen. Und trotzdem wäre der Gedanke, welcher Art dieses Leben war und welches grässliche Schicksal ihr drohte, tausendmal schlimmer als das sichere Wissen um ihren Tod gewesen.
Statt noch irgendetwas zu Graves zu sagen, drehte er mit einem Ruck den Kopf und sah wieder das Mädchen an. Sie erwiderte seinen Blick mit einer Art vorsichtiger Neugier, aber die schreckliche Leere zog sich dennoch nicht ganz aus ihren Augen zurück. Mogens wusste nichts von diesem Mädchen, weder ihren Namen noch ihre Herkunft, und schon gar nichts über ihr Schicksal, wie sie in die Gewalt der Ghoule geraten war. Eines aber machte ihm dieser Blick in ihren Augen mit unerschütterlicher Gewissheit klar: Wenn jemals etwas Menschliches in ihr gewesen war, so war es ihr genommen worden. Was die Ghoule ihren Opfern antaten, das ging über die bloße körperliche Gewalt, die sie ausübten, hinaus. Dieses bedauernswerte Geschöpf bestand nur noch aus Furcht und Schmerz, und Mogens spürte auch, dass es nichts gab, was sie noch retten, ihr ihre verlorene Menschlichkeit zurückgeben konnte.
»Das sind also Ihre Götter von den Sternen, Doktor«, sagte Miss Preussler bitter. »Die Wesen, denen Ihr ganzes Trachten und Handeln galt. Sie haben Ihr ganzes Leben lang nichts anderes getan, als nach ihnen zu suchen, habe ich Recht? Und? Hat es sich gelohnt?«
Graves antwortete nicht gleich. Obwohl Mogens sein Gesicht nur im Profil erkennen konnte, sah er doch den stummen Kampf, der sich hinter seiner Stirn abspielte. »Vielleicht habe ich mich geirrt«, sagte er ganz leise. »Vielleicht sind sie doch keine Götter.«
»Woher kommt dieser plötzliche Sinneswandel?«, fragte Miss Preussler.
»Ich hatte niemals eine Meinung über sie, Miss Preussler«, antwortete Graves ernst. »Ich bin Wissenschaftler, und als solcher war ich neugierig.«
»Ach?«, fragte Miss Preussler. Sie sah auf seine Hände hinab. »Mehr nicht?«
Graves blieb ihr die Antwort auf diese Frage schuldig und wandte sich stattdessen zu Mogens um. »Wir sollten später darüber reden«, sagte er. »Gab es außer diesem armen Mädchen noch andere Überlebende?«
»Nicht mehr«, sagte Mogens schleppend. Er hatte Mühe, sich auf die Beantwortung dieser einfachen Frage zu konzentrieren. Seine Gedanken überschlugen sich noch immer. Er hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren.
»Das Beben«, vermutete Graves.
»Dort unten ist alles zusammengestürzt«, antwortete Miss Preussler an Mogens Stelle. »Aber das bedeutet nicht, dass es nicht noch andere gibt. Als ich vergangene Nacht hier war...«
»Das mag sein«, fiel ihr Graves ins Wort. »Ich bin im Gegenteil sogar fast sicher, dass es noch andere gibt. Aber ich fürchte, wir können im Moment nichts für sie tun. Uns bleibt nicht mehr sehr viel Zeit, von hier zu verschwinden.« Er zog seine Taschenuhr heraus und klappte den Deckel auf. »Eine gute halbe Stunde, um genau zu sein.«
»Ich werde hier nicht weggehen, solange sich ein einziger Mensch in der Gewalt dieser Bestien befindet«, sagte Miss Preussler entschieden.
»Dann werden Sie sterben«, antwortete Graves, »und retten niemanden. Nicht einmal dieses eine Mädchen.« Miss Preussler wollte auffahren, doch Graves fuhr mit einem Kopfschütteln und ganz leicht erhobener, trotzdem aber noch immer sanfter Stimme fort: »Seien Sie vernünftig, Miss Preussler. Niemand hat etwas davon, wenn wir umkommen, und genau das wird geschehen, wenn sich das Tor schließt und die Ghoule erwachen.«
»Aber wir... können sie doch nicht einfach im Stich lassen«, sagte Miss Preussler. Sie wirkte unsicher, zugleich aber noch immer entschlossen, wenn auch jetzt auf eine eher trotzige Art.
»Wir könnten zurückkommen«, antwortete Graves. Er deutete auf das Mädchen. »Mit ihr und dem Kind als Beweis muss man uns glauben. Wir könnten wiederkommen und diesem ganzen Spuk ein Ende bereiten. Aber nur, wenn wir die nächste Stunde überleben.«
Miss Preussler schwieg endlose Sekunden. In ihrem Gesicht arbeitete es. Mogens konnte den verzweifelten Kampf erkennen, den sie mit sich selbst ausfocht. Um nichts auf der Welt würde sie auch nur einen einzigen Menschen hier zurücklassen - aber Graves' Worte waren auch von einer zwingenden Logik, der sie nicht viel entgegenzusetzen hatte. Fast hilflos sah sie das Mädchen an, als erhoffe sie sich von ihr die Entscheidung, die sie selbst nicht zu treffen wagte, doch schließlich nickte sie.
»Also gut«, sagte sie. »Aber bilden Sie sich nicht ein, Sie könnten sich mit irgendeiner Ausrede davonmachen, Doktor Graves. Ich will Ihr Ehrenwort, dass Sie wirklich vorhaben, zurückzukommen und diese Höllenbrut auszulöschen.«
»Das haben Sie«, antwortete Graves.
Mogens hatte seine ganz eigene Meinung, was den Wert von Graves' Ehrenwort anging - aber er glaubte trotzdem zu spüren, dass es ihm zumindest in diesem Moment vollkommen ernst damit war. Was um alles in der Welt hatte Graves im Innern der Pyramide erlebt?
»Dann lassen Sie uns gehen«, sagte Miss Preussler.
50.
Tom kam zurück, gerade als sie sich dem Ausgang näherten. Mogens hätte nicht sagen können, ob es an der verwirrenden Optik der nichtmenschlichen Stadt draußen lag oder er sich ganz bewusst an sie herangepirscht hatte, doch er tauchte so warnungslos aus dem Nichts auf, dass selbst Graves deutlich erschrocken zusammenfuhr.
Mogens' Sorge galt im ersten Moment allerdings mehr dem Mädchen, das Graves und ihm zusammen mit Miss Preussler in einigen Schritten Abstand folgte. Auf Toms unerwartetes Auftauchen reagierte sie so gut wie gar nicht, aber Mogens fragte sich, was sie wohl tun würde, wenn sie dieses Gebäude verließen. Oder gar diese Stadt.
»Wie sieht es aus?«, fragte Graves, bevor Tom auch nur dazu kam, ein einziges Wort zu sagen.
»Nicht gut«, antwortete Tom unumwunden.
Graves schrak diesmal deutlich heftiger zusammen. »Haben sie uns gefunden?«, fragte er.
»Wer?«, fragte Mogens. »Von wem redest du?«
Sowohl Graves als auch Tom ignorierten ihn einfach. »Nicht direkt«, antwortete Tom. »Aber ich fürchte, wir kommen nicht auf demselben Weg wieder raus, auf dem wir reingekommen sind. Ich hab etliche von ihnen auf dem Weg zum Eingang gesehen.«
»Von wem redest du?«, fragte Mogens. »Graves! Du hast gesagt, dass diese Bestien alle schlafen!«
»Das stimmt auch«, antwortete Graves ungerührt. »Ich fürchte, es handelt sich um eine Art... Wächter.«