»Wenn es auch nur annähernd so gut schmeckt, wie es aussieht, wird es zweifellos die köstlichste Mahlzeit, die ich seit Jahren bekommen habe«, antwortete Mogens.
Tom lächelte geschmeichelt, machte dann aber eine fragende Handbewegung zur Tür. »Wenn das dann alles war... Ich muss mich noch um die andern kümmern.«
»Du machst das alles ganz allein?« Mogens hoffte, dass Tom ihm seine Enttäuschung nicht zu deutlich anmerkte. Er hatte gehofft, sich während des Essens ein wenig mit dem Jungen unterhalten zu können, um auf diese Weise vielleicht Antwort auf die eine oder andere Frage zu bekommen, die Graves ihm zu stellen keine Gelegenheit gegeben hatte.
»Halb so wild«, antwortete Tom geschmeichelt. »Und die Arbeit macht mir wirklich Spaß. Ich hab schon dran gedacht, in der Stadt ein Restaurant zu eröffnen, wenn die Arbeit hier vorbei ist. Aber bis dahin ist noch 'ne Menge Zeit.«
»Hat Doktor Graves das gesagt?«, erkundigte sich Mogens. »Dass es noch lange dauert?«
So unverfänglich die Frage klang, schien sie Tom doch sichtbar in Verlegenheit zu bringen. Er druckste einen Moment herum und sagte schließlich: »Bitte verzeihen Sie, Professor, aber Doktor Graves hat uns verboten, außerhalb der Höhlen über irgendwas zu sprechen, was mit unserer Arbeit zu tun hat.«
»Ist schon gut, Tom«, sagte Mogens. »Ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen.«
Tom nickte nervös. »Ich... ich komm dann später noch mal, um das Geschirr abzuräumen. Wenn Sie was brauchen, machen Sie einfach die Tür auf und rufen mich.« Er ging schnell, um Mogens keine Gelegenheit zu einer weiteren unangenehmen Frage zu geben, und Mogens seinerseits schüttelte auch noch den letzten Gedanken an Jonathan Graves und seinen ebenso sensationellen wie unheimlichen Fund ab und konzentrierte sich aufs Essen.
Schon nach den ersten Bissen wurde ihm klar, dass es tatsächlich die beste Mahlzeit war, die er seit Jahren außerhalb der vier Wände von Miss Preussler bekommen hatte; sie hätte auch dem Vergleich mit der Küche jedes gehobenen Hotelrestaurants standgehalten. Ganz offensichtlich verfügte Tom über sein fahrerisches Können hinaus noch über eine Menge anderer verborgener Talente. Obwohl Tom ihm eine schon fast überreichliche Portion aufgetan hatte, verzehrte er sie zur Gänze und tupfte auch noch den letzten Tropfen Soße mit einem Stück Brot auf.
Ein Gefühl wohliger Ermattung machte sich in ihm breit, nachdem er fertig gegessen hatte. Sein Blick blieb für einen Moment auf dem schmalen, aber frisch bezogenen Bett hängen und allein der Anblick reichte, um aus dem Gefühl wohliger Entspannung eine bleierne Schwere werden zu lassen. Seine Augenlider drohten von selbst zuzufallen und für einen Moment kostete es ihn all seine Willenskraft, nicht sofort und hier auf dem Stuhl einzuschlafen.
Er hatte jedes Recht, müde zu sein. Immerhin lag ein äußerst anstrengender - und langer - Tag hinter ihm, von der Kraft, die ihn der Schock über Graves' Entdeckung gekostet hatte, noch nicht einmal zu reden. Es wäre nicht nur verständlich, sondern auch durch und durch vernünftig gewesen, der Verlockung nachzugeben und sich die wenigen Schritte bis zu seinem Bett zu schleppen und sich darauf auszustrecken, um auf der Stelle einzuschlafen.
Aber das wollte er nicht.
Es widersprach nicht nur all seinen Gewohnheiten, sich zu so früher Stunde zum Schlafen zurückzuziehen, sondern erschien ihm angesichts dessen, was er heute erlebt hatte, geradezu verbrecherisch. Auch wenn er sich vollkommen darüber im Klaren war, dass er die wahre Tragweite dieser unglaublichen Entdeckung noch lange nicht überblicken konnte, so gab es an einem doch nicht den allergeringsten Zweifeclass="underline" Dies war nicht nur der wichtigste Tag seines Lebens, sondern ein Tag, der in die Geschichtsbücher eingehen würde, ein Tag, von dem nicht nur seine Forscherkollegen, sondern vielleicht die ganze Welt noch in Jahrzehnten sprechen würde. Was sollte er sagen, wenn man ihn fragte, wie er diesen Tag weltverändernder Erkenntnis verbracht hatte?
Dass er sich eine Stunde lang umgesehen, dann ein hervorragendes Mahl genossen und sich anschließend früh schlafen gelegt hatte?
Er kämpfte die Müdigkeit nieder, schenkte sich eine zweite und in rascher Folge eine dritte Tasse Kaffee ein und mobilisierte noch einmal all seine Willenskraft, um die Müdigkeit niederzukämpfen, während er darauf wartete, dass die belebende Wirkung des Koffeins einsetzte.
Der Rest Kaffee in seiner Kanne war noch nicht einmal spürbar abgekühlt, da ließ seine Schläfrigkeit nach, und nur einen Moment später begann sich auch die bleierne Schwere wieder von seinen Gliedern zu heben. Er fühlte sich alles andere als frisch, aber er widerstand auch der Versuchung, noch eine weitere Tasse zu trinken. Wenn er es übertrieb, würde er möglicherweise die ganze Nacht wach liegen und dafür morgen umso erschöpfter sein. Er stand auf, strich in einer ebenso instinktiven wie sinnlosen Bewegung seine Kleider glatt und begann mit einer ersten etwas gründlicheren Inspektion des Raumes, der für die nächsten Wochen und möglicherweise sogar Monate sein Zuhause sein sollte.
Sie verlief jedoch nicht deutlich ergiebiger als die erste. Zog er den Platz für Bett, Tisch und Stehpult ab, so reichte der verbleibende Raum kaum aus, um hier drinnen mehr als einen Besucher zu empfangen und dabei Gefahr zu laufen, einen Anfall von Klaustrophobie zu erleiden. Tom hatte sein Gepäck hereingeschafft und die beiden Koffer ungeöffnet neben dem Bett abgestellt, was Mercer sicherlich als einen weiteren Beweis seiner Faulheit auslegen würde, während es für Mogens eher ein Beleg seiner Diskretion war.
Mogens trat an das Stehpult, das Graves für ihn herbeigeschafft hatte, und klappte es auf. Das kleine Fach unter der schrägen Arbeitsplatte enthielt nichts außer einem Federhalter samt Tintenfass und einer ledernen Schreibmappe mit gut hundert Blatt blütenweißem Papier - aber was hatte er erwartet? Dass Graves ihm eine handschriftliche Notiz hinterlassen hatte, in dem er ihm sein großes Geheimnis offenbarte? Wohl kaum.
Vielleicht war ja das Bücherregal ergiebiger. Mogens schätzte die Anzahl der Bände, die sich auf den roh gezimmerten Brettern reihten, auf weit mehr als zweihundert, und Graves hatte sie gewiss nicht herbeischaffen lassen, damit er sich des Abends die Zeit mit unterhaltsamer Lektüre vertreiben konnte. Zumindest würde ihm allein die Auswahl der Titel einen Hinweis auf den Grund seines Hierseins geben.
Mogens machte einen Schritt auf das Regal zu und blieb dann wieder stehen. Das Licht war nicht sonderlich gut. Die Petroleumlampe und die flackernden Kerzen verbreiteten zwar eine anheimelnde Helligkeit, die jedoch kaum dazu geeignet schien, zu lesen. Statt weiterzugehen sah er zu der elektrischen Lampe unter der Zimmerdecke hoch und folgte dem fingerdicken schwarzen Kabel mit Blicken bis zur Tür, wo es in einem schweren Drehschalter endete. Mogens ging hin und legte den Schalter um. Das Ergebnis war ein schweres Klacken, aber die Lampe blieb dunkel.
Mogens versuchte es noch einmal, mit demselben Ergebnis, und dann wider besseres Wissen auch noch ein drittes Mal. Die Lampe blieb dunkel. Anscheinend bekam sie keinen Strom.
Das Licht hätte vermutlich ausgereicht, zumindest die Titel auf den Buchrücken zu entziffern, doch Mogens war nun einmal bei der Tür und er hatte Toms Worte nicht vergessen, wonach er ihn nur zu rufen brauchte, wenn ihm irgendetwas fehlte. Vielleicht war das ja die Gelegenheit, noch einmal ein paar Worte mit Graves' »Mädchen für alles« zu wechseln.
Er verließ die Hütte und spielte kurz mit dem Gedanken, noch einmal zurückzugehen und seinen Mantel zu holen, denn der Wind, der ihm entgegenschlug, war unerwartet kühl, entschied sich aber dann dagegen. Bis zu den anderen Hütten waren es nur ein paar Schritte. Ein wenig kühle Luft würde ihn nicht umbringen. Rasch überquerte er den freien Platz, steuerte wahllos das nächstliegende Gebäude an und hob die Hand, um zu klopfen, ließ den Arm aber dann wieder sinken und sah sich stirnrunzelnd um. Er hatte ein Geräusch gehört, wusste aber im ersten Moment weder, aus welcher Richtung es kam, noch, was es zu bedeuten hatte. Aber es wirkte falsch, auf schwer in Worte zu kleidende Weise bedrohlich.