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Mogens stand einen Moment lang in fast grotesk vorgebeugter Haltung da, kam dann endlich auf die einzig richtige Idee und stieß sich mit einer entschlossenen Bewegung ab. Der Grabstein verlor endgültig seinen Halt und fiel mit einem dumpfen Geräusch in den Morast, in dem er nahezu zur Hälfte versank, und Mogens fand mit wild rudernden Armen sein Gleichgewicht wieder. Das hätte ihm zu allem Überfluss noch gefehlt: der Länge nach in den Schlamm zu stürzen und von Kopf bis Fuß besudelt ins Lager zurückzukehren!

Mogens blieb sicher eine halbe Minute reglos stehen und wartete darauf, dass seine Hände und Knie aufhörten zu zittern, und betrachtete währenddessen nachdenklich den Grabstein, den er unabsichtlich umgestoßen hatte und der nun ganz langsam weiter im Schlamm versank. In gewissem Sinne, dachte er missmutig und mit einem fast resignierenden Blick auf seine Schuhe, tat er es dem Grabstein gleich: Auch er versank allmählich im Boden, nicht ganz so schnell und ganz sicher auch nicht so tief wie der Grabstein, der mehrere Zentner wiegen musste, aber seine Schuhe waren schon fast zur Gänze in dem wabbeligem Morast versunken, und wenn er noch lange hier herumstand und seinem eigenen Versinken zusah, dann steckte er wahrscheinlich bald bis an die Waden im Dreck.

Mogens gedachte allerdings nicht, es so weit kommen zu lassen. Mit einiger Anstrengung zog er die Füße aus dem Morast und brachte dabei sogar das Kunststück fertig, keinen seiner Schuhe einzubüßen. Sie waren trotzdem ruiniert, wie er übellaunig feststellte, und möglicherweise war dieser Teilsieg über den Morast nicht einmal von Dauer, denn er machte zwar einen raschen Schritt zur Seite, begann aber fast augenblicklich schon wieder einzusinken. Er musste einen regelrechten kleinen Tanz aufführen, bis er eine Stelle fand, an der der Boden auch nur halbwegs fest genug erschien, um sein Gewicht zu tragen.

Verwirrt sah er sich um. Der Grabstein, den er versehentlich umgestoßen hatte, war längst nicht der einzige, der keinen sehr festen Stand mehr gehabt hatte. Ganz im Gegenteiclass="underline" Die allermeisten Grabsteine, die er im blassen Licht der Mondsichel sah, standen nicht mehr gerade, sondern in unterschiedliche Richtungen gekippt, wie Halme eines versteinerten Kornfeldes, über dem sich ein Tornado ausgetobt hatte. Etliche waren auch ganz umgestürzt und zum Teil oder auch nahezu vollkommen im Boden versunken. Überall zwischen den schräg stehenden oder umgestürzten Grabsteinen brach sich das Sternenlicht auf reglos daliegendem Wasser, wo Nässe aus dem schwammigen Boden herausgesickert war und sich zu Pfützen gesammelt hatte. Es sah aus, als wäre der verlassene Friedhof mit Millionen kleiner Spiegelscherben übersät.

Mogens runzelte verwirrt die Stirn, als ihm die Bedeutung dieser Beobachtung klar wurde. Wer um alles in der Welt war so verrückt, einen Friedhof mitten in einem Sumpf anzulegen?

Er besann sich wieder auf den Grund seines Hierseins, drehte sich in einem langsamen Dreiviertelkreis und versuchte die Dunkelheit mit Blicken zu durchdringen. Es war hier deutlich heller als in Graves' Lager, aber eine mondlose Nacht blieb eine mondlose Nacht, und Mogens konnte nicht wirklich weiter als fünfzehn oder zwanzig Schritte sehen. Dennoch glaubte er nach einer Weile eine Bewegung wahrzunehmen, irgendwo links von ihm und im Grunde schon weit jenseits des Bereiches, den er überhaupt überblicken konnte. Sie war vage, und irgendetwas daran kam ihm auf unheimliche Weise falsch vor, ohne dass er sagen konnte, wieso. Zugleich glaubte er auch wieder Stimmen zu hören, doch auch daran war etwas nicht so, wie es sein sollte.

Die zwar immer leiser werdende, aber trotzdem noch vorhandene Stimme seiner Vernunft flüsterte ihm zu, dass jetzt nun unwiderruflich der Moment gekommen war, mit dieser kindischen Mutprobe Schluss zu machen und zurückzugehen, bevor er sich möglicherweise mehr ruinierte als nur ein Paar wildlederner Schuhe. Doch statt auf sie zu hören, wandte sich Mogens in Richtung des unheimlichen Schattens und ging los. So kindisch ihm selbst der Gedanke auch vorkam, es war eine Mutprobe, und er hatte sich schon zu weit auf dieses Spiel mit sich selbst eingelassen, um jetzt noch zurückzukönnen. Er konnte gewinnen oder verlieren, ihr aber nicht mehr aus dem Weg gehen.

Mogens war fest entschlossen, sie zu bestehen. Er hatte sich den schlimmsten Dämonen seines Lebens gestellt und sich so lange zugeredet, bis er selbst zu der Überzeugung gekommen war, dass Graves kein von Gott gesandter Racheengel war, der zu dem einzigen Zweck existierte, sein Leben zu verheeren, sondern nichts weiter als ein unangenehmer Mensch. Er würde nun gewiss nicht vor dieser anderen, viel kleineren Herausforderung kapitulieren und Reißaus vor einem verlassenen Moorfriedhof nehmen, auf dem ihn ein Schatten narrte. Mogens bewegte sich weiter auf den verschwimmenden Schemen zu, verlor ihn aber zwischenzeitlich immer wieder aus den Augen, denn er musste mindestens ebenso konzentriert darauf achten, wohin er seine Schritte lenkte, wollte er nicht Gefahr laufen, doch noch einen Schuh einzubüßen oder zu stürzen.

Er hätte damit rechnen müssen, war aber dennoch zutiefst enttäuscht, als er irgendwann einmal aufsah und der Schatten nicht mehr da war. Obwohl der Weg immer schlechter wurde, ging er noch einige Schritte weiter, bevor er endgültig bereit war, die Sinnlosigkeit seines Tuns einzusehen und enttäuscht Halt machte. Es hatte keinen Sinn mehr, sich etwas vorzumachen: Falls dort vorne überhaupt jemals etwas gewesen war - jetzt war es definitiv nicht mehr da, und er konnte ebenso gut kehrtmachen. Mit ein wenig Glück schaffte er es vielleicht sogar, rechtzeitig genug zu seiner Unterkunft zurückzukehren, um sich umzuziehen und zu säubern, bevor Tom kam, um das Geschirr abzuräumen, sodass niemand etwas von seiner Abwesenheit bemerkte.

Er hatte nicht vor, den gleichen Weg zurückzugehen, den er gekommen war, sondern wandte sich nach links, wo die Friedhofsmauer nur ein gutes Dutzend Schritte entfernt war. Sie kam ihm hier ein wenig höher vor als an dieser Stelle, an der er sie das erste Mal überstiegen hatte, aber die Aussicht, den Rückweg halbwegs trockenen Fußes zurücklegen zu können, erschien ihm ein kleines bisschen Kletterei durchaus wert.

Er umging einen mehr als mannshohen, deutlich schräg stehenden Grabstein, trat mit einem weit ausgreifenden Schritt über eine besonders große Schlammpfütze hinweg und hob den Blick.

Und sah seiner Vergangenheit ins Gesicht.

Neun Jahre seines Lebens lösten sich im Bruchteil einer Sekunde einfach auf. Er befand sich nicht mehr auf einem sumpfigen Friedhof vierzig Meilen östlich von San Francisco, sondern war wieder achtundzwanzig Jahre alt, hatte seine Promotion seit einer knappen Woche hinter sich und strolchte ebenso trunken vor Liebe wie von teurem Portwein über den kleinen Friedhof, der nur einen knappen Steinwurf vom Campus entfernt lag und nicht nur von trauernden Hinterbliebenen frequentiert wurde, sondern in noch weit größerem Maße von Studentenpärchen vorzugsweise beiderlei Geschlechts, die den jahrhundertealten Gottesacker als verschwiegenen Treffpunkt zu schätzen wussten, seit es diese Universität gab. Er war wieder mit Janice zusammen, hörte ihr helles Lachen, ihre leichten, huschenden Schritte und ihre übertrieben geschauspielerten, kleinen Schreckensschreie, die sie immer dann ausstieß, wenn er ihrer Meinung nach Gefahr lief, sie in der Dunkelheit des mitternächtlichen Friedhofes zu verlieren. Sie waren nicht allein auf dem Friedhof. Die Feier hatte bis weit in der Abend gedauert, und mit jeder Stunde, die verging, jedem Glas Punsch, das sie getrunken hatten war die Stimmung ausgelassener geworden, die Scherze infantiler. Es war noch nicht Mitternacht gewesen, aber auch nicht mehr lange bis dahin, als das alte Faktotum des Studentenwohnheims erschien, nur mit einem zerschlissenen Morgenmantel und Filzpantinen bekleidet, mit verstrubbeltem Haar und einem Gesicht, das von langen Stunden gezeichnet war, in denen er vergeblich versucht hatte, den Lärm aus der oberen Etage zu ignorieren, und die Feier griesgrämig für beendet erklärte. Er war nicht wirklich zornig gewesen, denn zu viele Jahre mit zu vielen Abschlussfeiern hatten ihn gelehrt, wie sinnlos Aufregung über ein gewisses Maß hinaus war - vor allem Studenten gegenüber, die das letzte Semester und alle Prüfungen erfolgreich hinter sich gebracht und somit auch nichts mehr zu verlieren hatten. Nicht einmal mehr mit einem Hausverweis konnte er ihnen drohen, denn die meisten Studenten hatten den Campus bereits verlassen, und die, die es noch nicht getan hatten, waren im Begriff, auszuziehen. Auch in Mogens' Brieftasche befand sich bereits eine Fahrkarte nach New Orleans, wo er - zugegeben durch die Fürsprache seines Doktorvaters und ohne selbst ganz genau zu wissen, was ihn erwartete - eine Anstellung an einem kleinen, aber äußerst renommierten Forschungsinstitut in Aussicht hatte; nichts Besonderes, wie sein Professor gesagt hatte, und schon gar keine gut bezahlte Stellung, aber eine, die zwei unbestreitbare Vorzüge hatte: Zum einen war sie ein ausgezeichnetes Sprungbrett für eine wissenschaftliche Karriere, und zum anderen gehörte dazu eine kleine, aber separate Wohnung, die auch für zwei durchaus ausreichend war, wenn man ein wenig zusammenrückte. Janice hatte noch ein Jahr vor sich, aber ein Jahr, so endlos es einem auch erscheinen mochte, wenn es vor einem lag, war eine überschaubare Zeit, die irgendwann zu Ende ging. Janices Leistungen und Noten waren nicht ganz so überragend wie die von Mogens, trotzdem aber gut genug, keinen Zweifel daran aufkommen zu lassen, dass sie in spätestens einem Jahr nachkommen würde. Janices Eltern waren ebenso wenig wie die Mogens' in der Lage, ihre Tochter über das absolut Notwendige hinaus zu unterstützen, aber auch, wenn Mogens' neue Stellung schlecht bezahlt wurde, sie wurde bezahlt, und wenn er sich ein wenig einschränkte und besonnen wirtschaftete, dann würde das ersparte Geld ausreichen, ihr in den Semesterferien und zu den Feiertagen eine Fahrkarte nach New Orleans zu schicken. Das mit dem Zusammenrücken würde sich dann schon ergeben, dachte Mogens, während er wieder einmal stehen blieb und auf die leichten Schritte lauschte, die irgendwo rechts vor ihm in der Dunkelheit erklangen.