Also lag es auf der Hand, es ihm genau auf diese Weise heimzuzahlen. Obwohl Mogens im Grunde nichts von solcherlei infantilen Scherzen hielt, hatte ihn Marc in den letzten Monaten weit genug gereizt, um sich einen kräftigen Denkzettel verdient zu haben.
Dennoch war er für einen Moment nicht mehr ganz sicher, ob sich das, was ihnen allen bei der Planung wie eine hervorragende Idee erschienen war, nicht in Wahrheit als äußerst dummer Einfall erweisen würde. Marc und Ellen hatten sich diesen Dämpfer verdient, ganz ohne Zweifel - aber wenn er jetzt in die Tasche griff und die Kautschukmaske aufsetzte, an der Jonathan, Janice und er eine gute Woche gebastelt hatten, dann würde das dem Rest des Abends einen vollkommen anderen Verlauf geben, als es im Moment noch möglich war.
Mogens dachte an das lautlose Versprechen, das er in Janice Augen gelesen hatte, und eine Woge kribbelnder Wärme begann sich in seinem Leib auszubreiten. Gut, sie befanden sich auf einem Friedhof, eine - unabhängig von Gründen der Pietät und Sittlichkeit - durchweg morbide Umgebung, aber schließlich waren sie keine mittelalterlichen Scholaren, sondern aufgeklärte junge Akademiker des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts, und ihm blieben nur noch zwei Tage, bis er und Janice sich für endlose Monate lang nicht mehr sehen konnten. Friedhof hin oder her, es gab genug verschwiegene Winkel, und der zurückliegende Abend und der ungewohnte Portwein taten ihre Wirkung. Mogens war oft genug auch tagsüber hier gewesen, um sich auszukennen.
Es gab - nicht einmal weit von seinem Standort entfernt - gleich eine ganze Anzahl kleiner, schon vor einem Menschenalter aufgegebener Mausoleen, die vor allem von jüngeren Studentenpärchen gern als verschwiegener Treffpunkt benutzt wurden. Was man allein schon daran sah, dass es das Friedhofspersonal schon vor langer Zeit aufgegeben hatte, die Vorhängeschlösser an den Türen zu erneuern, die sowieso in jeder Nacht wieder aufgebrochen wurden. Auch Mogens war schon das eine oder andere Mal dort gewesen, wenn auch nicht mit Janice und nicht mehr, seit aus ihrer platonischen Freundschaft mehr geworden war. Dennoch wusste er, dass es nur wenige Schritte bis zum nächsten dieser verschwiegenen kleinen Totenhäuser waren, ebenso, wie ihm klar war, dass es in dieser speziellen Nacht vermutlich nur einer flüchtigen Kopfbewegung bedurfte, damit Janice ihn dorthin begleitete.
Falls es Janice war, deren Schritte er noch immer in der Dunkelheit vor sich hörte. Mogens war sich dessen mittlerweile nicht mehr so sicher wie noch vor Augenblicken. Jonathan und er waren den anderen in einigem Abstand gefolgt, aber sie hatten sich aus den Augen verloren, als Janice - was zu ihrem Plan gehörte - plötzlich losgerannt war und ihr mitternächtliches Versteckspiel damit eröffnet hatte. Sie hatten vereinbart, dass sie und Beth dafür Sorge tragen würden, dass sich die beiden anderen nicht allzu weit von Jonathan und ihm entfernten, aber die Dunkelheit, die Mogens behinderte, konnte sie schließlich ebenso narren, sodass sie möglicherweise in die falsche Richtung gegangen war. Und es war nicht einmal sicher, dass es sich bei Graves, ihm selbst nebst ihren weiblichen Begleiterinnen und den beiden Opfern ihres geplanten Ulks um die einzigen nächtlichen Besucher des Gottesackers handelte. Bei allem Überschwang wäre es ihm doch unangenehm gewesen, Fremde - womöglich noch in einer peinlichen Situation - zu überraschen. Und er war nicht mehr sicher, dass die Schritte dort vor ihm tatsächlich Janice oder einem der anderen aus ihrer Gruppe gehörten.
Er war nicht einmal sicher, dass sie einem Menschen gehörten.
Mogens erschrak ein wenig vor seinem eigenen Gedanken. Was sollte es sonst sein, das sich da in der Nacht vor ihm bewegte? Es gab in diesem Teil des Landes schon seit fünfzig Jahren keine frei lebenden Tiere mehr - zumindest keine, die groß genug waren, solche Schritte zu machen -, und trotz - oder gerade wegen - seiner schon fast an eine Obsession grenzenden Leidenschaft für alles Okkulte und Unerklärliche war Mogens der vielleicht realistischste Mensch, den er selbst kannte. Er verscheuchte den Gedanken fast erschrocken, richtete sich weiter hinter seiner Nekropolen-Deckung auf und zog die Hand aus der Tasche.
Hätte er es dabei belassen und sich unverzüglich auf die Suche nach Janice gemacht, dann wäre nicht nur dieser Abend, sondern sein gesamtes Leben vollkommen anders verlaufen. Doch in diesem Augenblick wiederholte sich das unheimliche Schlurfen, und als Mogens die Augen anstrengte, da erblickte er einen gedrungenen Schatten, gerade an der fragilen Grenze, an der wirklich Gesehenes und die Ausgeburten von Fantasie und Furcht miteinander zu verschmelzen beginnen. Mit dieser Gestalt war irgendetwas nicht so, wie es sein sollte, und nun war es gerade Mogens' unstillbare Neugier allem Unbekannten und vermeintlich Unerklärlichem gegenüber, die sein Jagdfieber weckte, und das Schicksal nahm seinen Lauf.
Mogens hatte seine Augen mittlerweile so angestrengt, dass sie zu tränen begannen. Dennoch konnte er den sonderbaren Schatten jetzt besser erkennen, und offensichtlich hatte sich der Wind gedreht, denn die unheimlichen, schlurfenden Schritte waren nun merklich deutlicher zu hören. Mogens schob sich behutsam an seiner Deckung vorbei, huschte hinter einen weiteren, etwas kleineren Grabstein und sank in die Hocke, ließ den struppigen schwarzen Schatten zwanzig Schritte voraus dabei aber nicht aus den Augen. Das Licht reichte auch aus dieser Entfernung nicht, um Einzelheiten zu erkennen, aber immerhin sah Mogens jetzt, dass es sich um eine eindeutig menschenähnliche Gestalt handelte. Menschenähnlich, nicht menschlich. Sie war hoch gewachsen und hatte Arme, Beine und einen Kopf, aber irgendwie erschien ihm nichts davon... richtig. Die Arme waren zu lang und pendelnd, wie die eines aufrecht gehenden Primaten, der Schädel zu gedrungen und irgendwie deformiert, und auch mit der ganzen Körperhaltung stimmte etwas nicht. Obwohl sich der unheimliche Schatten im Moment nicht bewegte, musste Mogens wieder an die sonderbar schlurfenden Schritte denken, die er gehört hatte. Ein kalter Schauer lief seinen Rücken hinab, und es gelang ihm nicht vollkommen, sich selbst einzureden, dass es nur der Wind war, der allmählich auffrischte.
Was war das? Ein Mensch doch wohl kaum. Aber es gab kein Tier von solcher Größe und Wuchs, und...
Um ein Haar hätte Mogens laut aufgelacht, als ihm klar wurde, dass es selbstverständlich kein Tier dieser Gestalt gab, weder hier noch sonst wo auf der Welt. Vor ihm stand niemand anderer als Jonathan Graves, dem die Kautschukmasken, die sie angefertigt hatten, um Marc und seiner Freundin einen gehörigen Schrecken einzujagen, ganz offensichtlich nicht ausreichten. Mogens hatte keine Vorstellung, wo Graves dieses sonderbare Kostüm aufgetrieben hatte und was es darstellte, aber zumindest bei den herrschenden Lichtverhältnissen und über die Entfernung von gut zwanzig Schritten hinweg war seine Wirkung äußerst erschreckend. Selbst er war für einen Moment darauf hereingefallen, und er sollte es nun wirklich besser wissen.
»Jonathan?«, rief er. Er hatte die Stimme zu einem hellen Flüstern gesenkt, das allerhöchstem die zwanzig Schritte weit trug, die Jonathan entfernt war - schließlich wollte er ihm ja nicht den Spaß verderben und Marc und Ellen im allerletzten Moment noch warnen -, aber Graves hatte ihn offensichtlich trotzdem gehört, denn er fuhr auf der Stelle und mit einem knurrenden Laut herum und nahm eine geduckte, lauernde Haltung an. Selbst seine Bewegungen wirkten wie die eines Tieres, kaum wie die eines Menschen. Mogens hatte sich bereits halb hinter seiner Deckung erhoben, erstarrte aber nun noch einmal mitten in der Bewegung und blinzelte gleichermaßen verwirrt wie beunruhigt zu dem struppigen Schatten hin. Er erkannte auch jetzt nichts als eine bloße Silhouette, aber da waren spitze, fuchsartige Ohren, schreckliche Krallen und mattsilbernes Sternenlicht, das sich auf tückisch funkelnden Augen brach.