»Jonathan?«, fragte er noch einmal. Sein Herz klopfte. Er schalt sich selbst in Gedanken einen Dummkopf - Marc hätte seine helle Freude, könnte er ihn in diesem Moment sehen! -, führte die begonnene Bewegung energischer zu Ende und trat mit einem schwungvollen Schritt hinter dem Grabstein hervor, und die fuchsohrige Gestalt war von einem Blinzeln auf das Nächste verschwunden.
»Jonathan?«, fragte er zum dritten Mal, und diesmal konnte Mogens selbst hören, dass das Beben in seiner Stimme nicht nur Überraschung war, oder auf die Kälte und Anstrengung zurückzuführen. Er bekam so wenig eine Antwort wie die beiden Male zuvor, aber für einen winzigen Moment glaubte er wieder jene sonderbar schlurfenden Schritte zu hören, die sich nun schnell entfernten. Einen Atemzug später war er allein.
Mogens' Herz klopfte jetzt so stark, dass er seinen eigenen Puls bis in die Fingerspitzen fühlen konnte. Es kostete ihn alle Überwindung, zu der er fähig war, weiterzugehen und sich der Stelle zu nähern, an der er die unheimliche Gestalt gesehen hatte. Eines war ihm mittlerweile klar geworden: Ihr kleiner Racheplan war ganz und gar keine gute Idee. Nicht, wenn er bedachte, wie sogar er selbst auf die unerwartete Begegnung mit dem verkleideten Graves reagiert hatte. Sie wollten Marc und Ellen einen Denkzettel verpassen, nicht sie zu Tode erschrecken. Sie mussten mit diesem Unsinn aufhören, bevor noch jemand zu Schaden kam!
Er erreichte die Stelle, an der Graves gestanden hatte, und sah sich aufmerksam um, ohne selbst genau zu wissen, wonach er eigentlich suchte. Die Gestalt - Graves! Er musste aufpassen, was er dachte. Indem er den Schatten nicht als das bezeichnete, was er gewesen war, verlieh er ihm eine Bedrohlichkeit, die ihm nicht zustand! Graves war so spurlos verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben. Obwohl Mogens mittlerweile fest entschlossen war, es gut sein zu lassen und den kindischen Streich nicht auf die Spitze zu treiben, hatte er immer noch Hemmungen, laut zu rufen. Aber immerhin hatte er eine ziemlich konkrete Vorstellung, in welche Richtung Graves gegangen war. Mogens machte zwei Schritte in dieselbe Richtung, blieb wieder stehen und sah stirnrunzelnd zu Boden.
Obwohl es nicht geregnet hatte, waren Gras und Erdreich feucht und schwer von der Nässe, die in der Luft lag. Er konnte deutlich die frische Fußspur sehen, die seinen Weg kreuzte. Es war eine sehr seltsame Spur. Mogens ließ sich in die Hocke sinken und streckte die Hand aus, um mit den Fingerspitzen über die niedergetretenen Grashalme zu tasten. Er war kein außergewöhnlich talentierter Spurenleser, aber man musste kein direkter Nachfahre von Chingachgook sein, um zu erkennen, dass diese Fährte keine Minute alt war. Das Licht reichte selbst aus dieser geringen Entfernung nicht aus, um Einzelheiten zu erkennen, aber es war auch nicht zu übersehen, dass diese Abdrücke viel zu groß waren, um von normalen menschlichen Füßen hinterlassen worden zu sein, und darüber hinaus viel zu tief. Das Wesen, das diese Spuren verursacht hatte, hatte mindestens drei Zentner gewogen, wenn nicht mehr. Selbst wenn sich Graves - was sich Mogens beim besten Willen nicht vorstellen konnte - die Mühe gemacht hätte, zu seiner Verkleidung noch übergroße Schuhe anzuziehen - warum sollte er anderthalb Zentner Bleigewichte mit sich herumschleppen?
Inzwischen deutlich mehr alarmiert als verwirrt, richtete sich Mogens wieder auf und versuchte erneut, die Dunkelheit mit Blicken zu durchdringen. Falls überhaupt möglich, war es noch dunkler geworden, sodass er Graves - Graves? - vermutlich nicht einmal dann gesehen hätte, wäre er in zehn Schritten Entfernung an ihm vorbeigelaufen, aber er kannte immerhin die Richtung, in die er sich entfernt hatte. Der Friedhof lag als fast geometrisches Muster unterschiedlich großer, kubischer Schatten vor ihm, aber es gab ein paar Ausreißer aus diesem System: Nicht weit von ihm entfernt erhob sich ein gedrungener kubischer Schatten, der in einem gleichschenkeligem Dreieck endete, das trotzig zum Himmel wies; das Mausoleum, das Janice, Beth, Graves und er als Treffpunkt ausgemacht hatten. Mogens war überrascht, wie nahe er ihm schon war, setzte sich aber trotzdem sofort und mit schnellen Schritten in Bewegung. Lautlos huschende Schatten und eine noch leiser schleichende Furcht begleiteten ihn, und sein Herz begann im gleichen Maße schneller zu klopfen, in dem er sich dem Mausoleum näherte. Er musste an die unheimliche Spur denken, die er gefunden hatte, und sein Mund wurde trocken. Vielleicht hatten Devlin und seine extrovertierte Freundin ja Recht gehabt, dachte er. Vielleicht gab es Dinge, mit denen man sich besser nicht beschäftigte.
Als er näher kam, sah er, dass im Innern des Mausoleums Licht brannte; ein blassgelber, sorgsam abgeschirmter Schein, den er selbst aus zehn Schritten Entfernung vermutlich übersehen hätte, hätte er nicht genau gewusst, wonach er zu suchen hatte. Mogens beschleunigte seine Schritte noch mehr, schob mit der linken Hand die Gittertür auf und beugte instinktiv die Schultern, um sich nicht den Kopf an dem niedrigen Türsturz anzuschlagen, der für die kleinwüchsigeren Menschen eines früheren Jahrhunderts gebaut worden war. Der Raum dahinter war leer. Die Petroleumlampe, deren Schein ihn hergelockt hatte, stand auf dem Fußboden, und von irgendwoher drang ein gedämpftes, scharrendes Geräusch an sein Ohr.
»Jonathan?«
Eine endlose Sekunde lang bekam er keine Antwort, dann rief eine gedämpfte, helle Stimme: »Mogens?«
Janice. Mogens atmete hörbar erleichtert auf, war aber zugleich auch schon wieder alarmiert. Er konnte Janice hören, aber wo war sie? Der Raum maß nicht einmal fünf Schritte im Quadrat und war vollkommen leer! Außer dem Eingang gab es noch eine zweite, vergitterte Tür auf der anderen Seite, hinter der eine schmale Steintreppe steil in die Tiefe führte. So lange sich Mogens zurückerinnern konnte, war sie verschlossen und mit einem uralten und ebenso rostigem wie schwerem Vorhängeschloss gesichert gewesen. Jetzt stand sie eine Handbreit auf, und das Vorhängeschloss lag zerbrochen davor auf dem Boden.
»Janice«, rief er. »Bist du da unten?«
»Mogens?« Janices Stimme drang so hohl und verzerrt zu ihm herauf, als spräche sie vom Grund eines Brunnenschachtes. »Mogens, komm hierher! Du musst dir das ansehen! Das ist fantastisch!«
Mogens trat zögernd auf die offen stehende Tür zu. Jetzt, wo er näher kam sah er, dass auch von unten ein gelblicher, wenn auch weit blasserer und flackernder Lichtschein heraufdrang. Der Gedanke, dass Janice dort unten war, beunruhigte ihn mehr, als er sich selbst erklären konnte. Etwas... stimmte nicht. Er konnte es erklären, aber diese Erklärung war zu grotesk, als dass er dem Gedanken auch nur erlaubt hätte, Gestalt anzunehmen, und als sein Blick im Vorbeigehen das zerbrochene Schloss streifte, wuchs seine Beunruhigung sogar noch. Es war nicht einfach nur zerbrochen, sondern regelrecht zerfetzt. Die schwere eiserne Lasche, mit der es an der Tür befestigt gewesen war, war aufgebogen wie das dünne Blech einer Konservendose. Nein, verbesserte er sich selbst, er war nicht besorgt bei dem Gedanken, dass Janice dort unten war - die Vorstellung versetzte ihn in Panik.
Er zog die Tür weiter auf, machte aber dann noch einmal kehrt, um die Lampe zu holen. Die Schatten gerieten in unruhige huschende Bewegung, als er sie hochhob und sich umdrehte, und für einen unendlich kurzen Moment schien da noch etwas anderes zu sein, als versuchten körperlose Dinge aus jenem schmalen Grenzbereich zwischen der Welt des Lichts und der Dunkelheit in die Schatten zu fliehen. Ein sonderbar fader Geschmack begann sich auf seiner Zunge auszubreiten. Er hätte nicht hierher kommen sollen. Diese ganze verrückte Idee ging mittlerweile weit über einen Studentenulk hinaus. Mogens war trotz allem noch nicht bereit, an das Wirken übernatürlicher Kräfte zu glauben, oder gar daran, dass er gerade draußen tatsächlich einer Kreatur begegnet sein sollte, die sich nur hinter der Maske des scheinbar Menschlichen verbarg, in Wahrheit aber etwas gänzlich anderes war.