»Nein«, antwortete Tom. »Es ist einer von den Maulwürfen.«
Im ersten Moment sah Mogens ihn nur verständnislos an, aber dann erinnerte er sich an das Gespräch, das Tom und er gestern im Wagen geführt hatten.
»Einer der Geologen?«
»Sie schleichen ständig um das Lager und auf dem Friedhof herum«, bestätigte Tom. »Doktor Graves ist sehr wütend darüber. Einmal hat er sogar damit gedroht, den nächsten von ihnen zu erschießen, den er auf dem Grabungsfeld erwischt.« Er hob die Schultern. »Ich glaube zwar nicht, dass er das wirklich tun würde, aber es klang ziemlich überzeugend.«
Zumindest in einem Punkt stimmte Mogens mit Tom überein: Auch er glaubte nicht, dass Graves' Drohung, auf die Geologen zu schießen, ernst gemeint gewesen war. Jonathan Graves verfügte über weit subtilere Mittel, seine Ziele zu erreichen.
»Möchten Sie noch 'nen Kaffee, Professor?«, fragte Tom.
Mogens reichte ihm zwar den leeren Becher, schüttelte aber zugleich auch den Kopf und bedeutete ihm mit einer Geste, ihn auf den Tisch zu stellen. »Ich glaube, ich habe mich noch gar nicht bei dir bedankt, Tom«, sagte er. »Ohne dich wäre ich jetzt nicht mehr am Leben.«
»Unsinn«, widersprach Tom impulsiv, machte für eine Sekunde ein erschrockenes Gesicht und verbesserte sich dann hastig und mit einem verlegenen Lächeln: »Ich meine: Wie kommen Sie denn darauf?«
»Nun, wenn mich dieses Ungeheuer...«
»Aber da war kein Ungeheuer, Professor«, fiel ihm Tom ins Wort.
»Was soll das heißen, kein Ungeheuer!«, sagte Mogens. »Ich habe es doch genau gesehen!«
Tom antwortete nicht gleich, und als er es tat, sprach er mit leiserer, veränderter Stimme und ohne Mogens dabei ins Gesicht zu sehen. »Ich fürchte, ich bin es, der sich bei Ihnen entschuldigen muss, Professor«, sagte er. »Sie haben gestern Abend kein Ungeheuer gesehen, sondern mich.«
»Dich?« Mogens schüttelte heftig den Kopf. »Ganz bestimmt nicht, Tom. Ich weiß, was ich gesehen habe. Ich wollte das Licht einschalten, aber es funktionierte nicht, und da habe ich mich daran erinnert, dass du gesagt hast, ich brauchte nur nach dir zu rufen, wenn ich etwas wollte. Also bin ich nach draußen gegangen, um nach dir zu suchen. Dabei habe ich Schritte gehört, und einen Schatten gesehen. Jemand ist durch das Lager geschlichen.«
»Wir schalten den Generator aus, sobald der Letzte den Tempel verlassen hat«, sagte Tom. »Er benötigt 'ne Menge Treibstoff, der eigens aus Frisco hergeschafft werden muss.« Er hob die Schultern. »Ich hätt Ihnen das sagen sollen. Verzeihen Sie.«
Als ob das jetzt eine Rolle spielte! »Ich habe jemanden gesehen«, beharrte Mogens. »Und ich bin ihm nachgegangen. Er ist durchs Lager geschlichen und hinaus zum alten Friedhof!«
»Das war ich«, sagte Tom.
Mogens starrte ihn an. »Du?«
»Ich mach jeden Abend eine Runde durch das Lager«, bestätigte Tom. »Manchmal sogar zusätzlich noch mal in der Nacht. Manchmal schleichen Neugierige hier rum. Kinder aus der Stadt oder auch Indianer, die alles stehlen, was nicht niet- und nagelfest ist, um es gegen Schnaps einzutauschen. Und auch Leute mit... weniger harmlosen Absichten. Manchmal geh ich auch hinaus zum alten Friedhof, um dort nach dem Rechten zu sehen. Gestern Abend war ich auch dort. Ich hatte die ganze Zeit über das Gefühl, dass mir jemand folgt, also hab ich mich hinter einem alten Grabstein versteckt und gewartet. Und als Sie dann näher gekommen sind...« Er machte ein schuldbewusstes Gesicht und sah Mogens mit sichtlicher Kraftanstrengung nun doch in die Augen. »Es tut mir wirklich Leid, Professor. Wenn ich geahnt hätte, dass ich Sie so erschrecke, dann hätt ich mich früher bemerkbar gemacht.«
»Das ist lächerlich!«, sagte Mogens. Seine Stimme zitterte. »Warum tust du das, Tom? Um mich zu beruhigen? Das brauchst du nicht. Ich weiß, was ich gesehen habe!«
Aber wusste er das wirklich? Was, wenn Tom Recht hatte und tatsächlich er es gewesen war, den er gesehen hatte, und nicht die Bestie aus seiner Vergangenheit? Dann müsste er zugeben, dass er sich wie eine hysterische alte Jungfer vor einem Schatten erschreckt hatte und in Ohnmacht gefallen war.
»Ich weiß, was ich gesehen habe«, beharrte er. Selbst in seinen eigenen Ohren klang es trotzig, nicht mehr wirklich überzeugt.
»Das bezweifle ich nicht«, antwortete Tom. »Aber könnte es nicht auch so gewesen sein: Sie haben diese schreckliche Geschichte erlebt, vor fast zehn Jahren. Doktor Graves ist nicht Ihr Freund, und allein ihn wiedergesehen zu haben muss all die schlimmen Erinnerungen wieder in Ihnen geweckt haben - und dazu noch die ganzen unheimlichen Sachen, die da unten im Tempel sind und von denen ein normaler Mensch alleine schon Albträume bekommt.«
»Wofür hältst du dich eigentlich?«, fragte Mogens böse. »Für einen Psychiater?«
»Und dann haben Sie Schritte gehört und sind mir nachgeschlichen. Noch dazu auf einem Friedhof«, fuhr Tom ungerührt fort. »Und plötzlich waren all die Erinnerungen wieder da. Ihr Zorn auf den Doktor, dem Sie nie verziehen haben, dass er Sie so im Stich gelassen hat. Der Schmerz über den Verlust Ihrer Freundin, und die Erinnerung an diese furchtbare Nacht - und dann noch dieser Friedhof, der sogar mir manchmal unheimlich ist.« Er schüttelte seufzend den Kopf. »Als ich so dumm war, wie aus dem Nichts vor Ihnen aufzutauchen, da mussten Sie ja dieses... Ding sehen. Mir war es jedenfalls so ergangen. Und ich glaube, jedem anderen auch.«
Mogens starrte den jungen Mann aus aufgerissenen Augen an. Er konnte nicht sagen, was ihn mehr schockierte: die zwingende Logik, die aus Toms Worten sprach, oder die Leichtigkeit, mit der der Junge seine Situation erkannt und analysiert hatte. Ein ungebildeter Waisenjunge vom Lande, der nicht einmal wusste, wie alt er war? Lächerlich! Wer zum Teufel war dieser Junge?
Mogens stellte die Frage laut.
»Sie schmeicheln mir, Professor«, antwortete Tom. »Aber diesmal irren Sie sich. Ich bin nicht sehr klug. Aber ich bin ein guter Beobachter, und ich hab 'ne Menge Zeit, um nachzudenken.«
»Und du liebst es, Spielchen zu spielen«, fügte Mogens finster hinzu. Aber es war sonderbar: Es gelang ihm einfach nicht, wirklich zornig auf Tom zu werden. Nicht einmal jetzt. So zwingend Toms Argumentation sich im ersten Moment auch anhörte, wusste er doch, dass sie nicht stimmte. Aber etwas in ihm wollte, dass sie wahr war.
»Nein«, erwiderte Tom lachend. Mogens hätte den Finger nicht auf den Unterschied legen können, aber von einem Moment auf den anderen war er wieder der schüchterne blasse Junge, den noch deutlich mehr Jahre vom Mannsein als von der Kindheit trennten und der aus großen neugierigen Augen in eine Welt blickte, die er nicht verstand, und dem er deutlich mehr Vertrauen entgegenbrachte, als vielleicht gut war. »Ich mach mir nur Sorgen um Sie, Professor. Ich weiß, es steht mir nicht zu, aber...« Er suchte einen Moment vergeblich nach Worten und rettete sich schließlich in ein Schulterzucken. »Sie sind anders als Doktor Graves und die anderen.«
»Anders?«
Die Tür wurde aufgerissen, und Graves stürmte herein. Sein Gesicht war dunkel vor Zorn, und er warf die Tür mit solcher Wucht hinter sich zu, dass Tom auf seinem Stuhl erschrocken zusammenfuhr und aufsprang.
»Verdammte Schlammwühler!«, polterte er. »Nicht einmal...« Er stockte, sowohl mitten im Satz als auch in der Bewegung. Sein Kopf bewegte sich rasch von rechts nach links und wieder zurück, und Mogens war klar, dass er mit einem einzigen Blick nicht nur den gesamten Raum, sondern auch die Situation erfasste. Am Ende der Bewegung blieb sein Blick auf Mogens' schlammverkrusteten Schuhen und den verdreckten Kleidern hängen, die in einem unordentlichen Haufen neben seinem Bett auf dem Boden lagen.