»Hast du das Lager verlassen, Mogens?«, fragte er. Ohne seine Antwort abzuwarten, fuhr er zu Tom herum. Der Zorn in seinen Augen wurde nicht wirklich stärker, nahm aber eine andere Qualität an.
»Tom!«, schnappte er. »Ich hatte dich angewiesen, Professor VanAndt dahingehend zu unterrichten, dass niemand ohne mein ausdrückliches Einverständnis das Gelände zu verlassen hat!«
»Das hat er«, sagte Mogens rasch, und noch bevor Tom auch nur dazu ansetzen konnte, sich zu verteidigen. Graves zog nachdenklich die Brauen zusammen, und auch Tom hatte sich für eine halbe Sekunde nicht wirklich in der Gewalt, denn er sah ihn regelrecht fassungslos an, was Graves natürlich keineswegs entging.
»Es ist nicht seine Schuld«, fuhr Mogens in bestimmterem, lauterem Ton fort. »Tom hat mich schon auf der Autofahrt hierher von deinem Wunsch in Kenntnis gesetzt.« Er setzte sich gerade auf und widerstand der Versuchung, die Decke enger um die Schultern zu ziehen, als ihm ein weiterer kalter Schauer über den Rücken lief. Mit Graves schien ein Schwall eisiger Luft hereingekommen zu sein, aber Mogens war nicht einmal sicher, ob sein Frösteln daran lag oder an den eisigen Blicken, mit denen Graves ihn maß.
»Aber anscheinend nicht deutlich genug«, sagte er schließlich - in einem Ton, der keinen Zweifel daran ließ, wie wenig Glauben er Mogens' Worten schenkte.
»Oh, Tom war schon deutlich genug«, antwortete Mogens kühl. »Mir ist nur noch nicht ganz klar, in welcher Eigenschaft ich eigentlich hier bin, Jonathan. Als Mitarbeiter oder als Gefangener.«
Graves runzelte noch heftiger die Stirn. Er sagte nichts.
»Nun?« Mogens stand auf und sah Graves herausfordernd in die Augen. »Was genau bin ich?«
Graves' Lippen wurden zu einem schmalen, fast blutleeren Strich. Doch statt auf seine Frage zu antworten, machte er eine abgehackte Kopfbewegung auf den Haufen schmutziger Kleider zu seinen Füßen, während derer er Mogens aber keinen Sekundenbruchteil aus den Augen ließ. »Was ist passiert?«
»Ich war ungeschickt«, antwortete Mogens. »Ohne Tom hätte die Sache vielleicht ein böses Ende genommen. Du solltest ihm dankbar sein, statt ihm Vorhaltungen zu machen.«
»Was dir klar machen sollte, dass meine Anweisung einen Sinn hat, Mogens«, versetzte Graves. »Die Umgebung hier ist nicht ohne Gefahr - vor allem für jemanden, der sich nicht auskennt. In diese Sümpfe ist schon so mancher hineingegangen, der nie wieder herausgekommen ist.« Er hob die Schultern, als wäre damit alles gesagt, und wandte sich direkt an Tom. »Hast du nichts zu tun?«
Tom verschwand so schnell, als hätte er sich buchstäblich in Nichts aufgelöst - allerdings erst, nachdem er Mogens noch einen raschen, dankbaren Blick zugeworfen hatte, der Graves ebenso wenig entging wie sein Erstaunen zuvor.
»Warum schützt du ihn?«, fragte er, kaum dass sie allein waren. Da Mogens nicht antwortete, fuhr er mit einem neuerlichen Achselzucken und mit einem angedeuteten Seufzen fort: »Du magst den Jungen, was ich verstehen kann. Jeder mag ihn. Er ist ein kluger Bursche, und ausgesprochen nett. Aber er braucht eine starke Hand. Und ich schätze es nicht, wenn einer mit den Angestellten fraternisiert.« Er hob die behandschuhte Rechte, als Mogens auffahren wollte. »In einer Stunde spätestens wirst du verstehen, warum ich auf diesen Sicherheitsvorkehrungen bestehe.« Er sah sich suchend um.
»Hast du noch einen Kaffee für einen ehemaligen Studienkollegen übrig?«
Mogens ignorierte den versöhnlichen Ton in Graves' Stimme ebenso geflissentlich wie seinen Versuch, ein Lächeln auf seine Züge zu zwingen. Es blieb bei dem Versuch. Jonathan Graves' Gesicht war nicht von der Art, die zu einem Lächeln war.
»Da steht welcher«, sagte er mit einer Kopfbewegung in Richtung Tisch. Gleichzeitig streifte er die Decke ab, bückte sich nach seinem Koffer und klappte ihn auf, um sich frische Kleider zu nehmen.
»Zieh nicht unbedingt deinen besten Sonntagsstaat an«, riet ihm Graves, der irgendwo hinter seinem Rücken lautstark mit Tassen und Geschirr klapperte. »Wir müssen durch etwas... unwegsames Gelände.«
Mogens registrierte das kurze Stocken in seinen Worten sehr wohl, ebenso, wie ihm klar war, dass es dem einzigen Zweck diente, ihn zu einer entsprechenden Frage zu provozieren. Er tat ihm nicht den Gefallen, sondern schwieg beharrlich, hörte aber dann doch auf seinen Rat und wählte die einfachsten Kleider, die er in seiner ohnehin bescheidenen Auswahl fand.
Während er sich ankleidete, konnte er hören, wie Graves sich einen Becher Kaffee einschenkte und Platz nahm. Etwas an seinem Schweigen machte Mogens klar, dass Graves auf eine ganz bestimmte Reaktion oder Frage seinerseits wartete, und vielleicht hätte er ihm den Gefallen sogar getan, hätte er nicht in der Bewegung einen kurzen, fast unabsichtlichen Blick aus den Augenwinkeln auf Graves' Gesicht aufgefangen. Es war nur ein vager Eindruck; eine rasche Vision aus jenem schmalen Grenzbereich, in dem das wirklich Gesehene nicht mehr ausreichte und von den gespeicherten Informationen aus dem Gedächtnis - oder der Fantasie - ergänzt werden musste; und in diesem Fall wohl ganz eindeutig aus seiner Fantasie. Denn was Mogens in jenem kurzen, irrealen Augenblick sah, das war nicht Graves' Gesicht, sondern eine albtraumhafte Larve, die nur oberflächliche Ähnlichkeit mit einem menschlichen Antlitz hatte. Durch Graves' Züge schimmerte etwas Raubtierhaftes, Wildes, das sich normalerweise unter seinen menschlichen Zügen verbarg, nun aber, aus diesem ganz bestimmten Blickwinkel und in diesem ganz bestimmten Moment, durch die Oberfläche des normalerweise Sichtbaren hindurchschimmerte. Vielleicht sah er Graves in diesem Moment zum allerersten Mal so, wie er wirklich war; nicht das, wonach er aussah, sondern das, was er war: Ein reptilienhaftes Ding, das lauerte und schlich und auf seine Gelegenheit wartete, zuzuschlagen.
Und selbstverständlich war es nicht wirklich Graves, den er sah. Es war das, was er sehen wollte, das Bild von Doktor Jonathan Graves, das er sich in dem zurückliegenden Jahrzehnt zurechtgelegt hatte, die Essenz von mehr als neun Jahren Hass, verletztem Stolz und Selbstzerfleischung. Mogens war sich dieses Umstandes vollkommen bewusst, wie er sich auch darüber im Klaren war, dass er es war, der sich damit ins Unrecht setzte. Dennoch führte diese blitzartige dunkle Vision dazu, dass er Graves nicht antwortete, sondern sich im Gegenteil weit mehr Zeit dabei ließ, sich anzukleiden, als notwendig gewesen wäre. Er kam sich selbst durch und durch albern dabei vor, seiner kindischen Furcht zu erliegen, aber sein Herz klopfte bis zum Hals, als er sich schließlich aufrichtete und umwandte.
Graves hatte einen Stuhl umgedreht, saß rittlings darauf und hatte die Handgelenke lässig auf der Stuhllehne aufgestützt. Dann und wann nippte er an dem Kaffee, den er sich eingeschenkt hatte, während er Mogens aus seinen kalten, fast ausdruckslosen Augen musterte.
»Einen Penny für deine Gedanken, Mogens«, sagte er.
»Lieber nicht«, antwortete Mogens. »Du wolltest mir etwas zeigen?«
Graves sah ein bisschen verletzt aus. »Wir hatten keinen guten Start, wie?«, sagte er, Mogens' Frage ignorierend. »Das tut mir Leid. Ich hatte es mir anders vorgestellt, nach all der Zeit. Vielleicht zu einfach. Mein Fehler. Es tut mir Leid.«
»Dir tut etwas Leid?« Mogens zog die linke Augenbraue hoch. »Es fällt mir ein wenig schwer, das zu glauben.«
»Gib mir eine Chance.«
»Die gleiche, die du mir gegeben hast?« Mogens suchte vergebens nach einer Antwort auf die Frage, warum er sich überhaupt auf diese Diskussion einließ. Er war fast erstaunt, seine eigene Stimme zu hören, als er fortfuhr: »Warum hast du nichts gesagt, damals? Ein einziges Wort, Jonathan, und...«