5.
Was Mercer ihm gestern bereits prophezeit hatte, schien sich überraschend schnell zu bewahrheiten: Mogens fühlte sich noch immer nicht besonders wohl dabei, die schmale Leiter hinunterzuklettern, die unter seinem und Graves' gemeinsamem Gewicht hörbar ächzte, aber es machte ihm schon nicht mehr ganz so viel aus wie am vergangenen Tag. Natürlich lag es daran, dass er seine Nervosität niemals in Graves' Nähe zugegeben hätte, aber anscheinend gewöhnte er sich tatsächlich an seine neue Umgebung.
Und dazu kam natürlich seine Neugier. Nach allem, was zwischen ihnen vorgefallen war, schämte sich Mogens seiner eigenen Gefühle beinahe, aber er kam dennoch nicht umhin zuzugeben, dass es Graves gelungen war, seine Neugier zu wecken. Die Entdeckung dieses unterirdisch gelegenen ägyptischen Tempels - nur wenige Meilen von San Francisco entfernt - war an sich schon sensationell genug. Mit welchem noch größeren Wunder wollte Graves denn noch aufwarten?
Auf dem Weg nach unten und durch den Gang mit den Wandmalereien und Reliefarbeiten versuchte er mehrmals, Graves wenigstens eine Andeutung zu entlocken, bekam aber stets nur ein geheimnisvolles Lächeln zur Antwort. So sehr sich Mogens in diesem Moment auch darüber ärgerte, konnte er Graves zugleich auch verstehen. Möglicherweise hätte er an dessen Stelle nicht anders reagiert. Aber was konnte Graves entdeckt haben, das das hier noch in den Schatten stellte?
Mogens fasste sich notgedrungen in Geduld, während er durch den nur schwach erhellten Stollen tappte. Gestern war er von dem Gesehenen viel zu erschlagen gewesen, um auf Einzelheiten zu achten, nun aber musterte er die Malereien und Reliefs, an denen sie vorbeikamen, umso genauer, und ihm fielen doch gewisse Unterschiede zu der ägyptischen Kunst auf, die er kannte. Er war kein Spezialist, was diese Epoche anging, aber er war im Laufe seines Studiums natürlich nicht umhin gekommen, sich auch mit der Kunst und Kultur des alten Ägypten zu beschäftigen. Was er gestern schon gemutmaßt hatte, schien sich nun zu bestätigen: Es gelang ihm nicht, die Bildnisse und Steinmetzarbeiten einer bestimmten Epoche zuzuordnen. Aber das musste nichts bedeuten, wie ihm der Wissenschaftler in ihm erklärte. Schließlich waren sie hier zweifellos in einem ägyptischen Tempel, aber nicht in Ägypten. Das Reich der Pharaonen war vor mehr als zwei Jahrtausenden untergegangen, aber diese Anlage konnte ebenso gut viel älter sein - oder auch viel jünger. Es war so, wie Graves gestern gesagt hatte: Das alte Pharaonenreich hatte mehrere tausend Jahre lang existiert; eine für einen Menschen unvorstellbar lange Zeit, in der buchstäblich alles vorstellbar war.
Mogens schwindelte, als er versuchte, sich das Erdbeben vorzustellen, das diese Entdeckung in der Fachwelt - und nicht nur dort - hervorrufen musste. Und auch sein schlechtes Gewissen meldete sich wieder. Gleich wie entrüstet er war und egal was Graves ihm in der Vergangenheit angetan hatte, seine Neugier war geweckt, und Mogens war auch gegen die Verlockung nicht gefeit, als einer von den Wissenschaftlern in die Geschichtsbücher einzugehen, denen dieser Fund zugeschrieben wurde.
»Wie hast du das alles hier überhaupt entdeckt?«, fragte er, nur um überhaupt etwas zu sagen. Er hätte es nicht ertragen, weiter schweigend hinter Graves herzugehen.
»Genau genommen war es Tom«, antwortete Graves; allerdings erst, nachdem sie den Stollen verlassen und wieder in die Grabkammer hineingetreten waren. Die roten Rubinaugen der beiden Horusstatuen rechts und links des Eingangs schienen missbilligend auf sie herabzublicken, und Mogens ertappte sich bei dem vollkommen absurden Gedanken, dass es nicht gut war, an einem heiligen Ort wie diesem über solche Banalitäten zu reden. »Ihm haben wir das alles zu verdanken.«
»Tom?«
»Nicht genau diesen Raum, und er wusste auch gewiss nicht, worauf er da überhaupt gestoßen ist«, erklärte Graves. Er machte eine Kopfbewegung zur Decke hinauf. »Wir sind hier ziemlich genau unter dem Südrand des alten Friedhofs. Tom hat eines der alten Gräber geöffnet und ist dabei auf einen Hohlraum gestoßen. Da er ihm sonderbar vorkam, ist er zu mir gekommen und hat mich um Rat gefragt.«
»Warum?«, fragte Mogens beinahe erschrocken.
»Wir kennen uns schon seit vielen Jahren«, antwortete Graves. »Wenn ich in San Francisco bin, besuche ich ihn regelmäßig, und bei meinem letzten Besuch...«
»Das meine ich nicht«, unterbrach ihn Mogens. Seine Stimme wurde eine Spur schriller. »Was hast du vorher gesagt? Tom hat ein altes Grab geöffnet? Warum?«
John setzte zu einer Antwort an, beließ es aber dann bei einem leicht irritierten Blick und einem angedeuteten Schulterzucken. »Ehrlich gesagt, habe ich ihn das nie gefragt«, gestand er. »Ich war viel zu aufgeregt, als mir klar wurde, was sein Fund wirklich bedeutete.« Er schüttelte ein paar Mal den Kopf. »Das muss man sich einmal vorstellen: Da suchen Tausende von Forschern seit hundert Jahren mit unglaublichem Aufwand alle Länder dieses Erdballs ab, um die Rätsel unserer Vergangenheit zu lösen, und ein einfacher Junge vom Lande, der nicht einmal richtig lesen und schreiben kann, stößt auf die gewaltigste Sensation aller Zeiten.«
Mogens hatte Mühe, seinen Worten zu folgen. Das konnte kein Zufall sein! Tom hatte ein Grab geöffnet? Warum? Und warum auf einem Friedhof, der seit einer Generation nicht mehr benutzt wurde. Mit einem Mal erfüllte ihn der Gedanke mit Besorgnis, dass es noch keine Stunde her war, dass er Tom - ausgerechnet Tom - seine Geschichte erzählt hatte!
»Hörst du mir überhaupt zu?« Es war nicht die Frage an sich, sehr wohl aber der scharfe, fast schon ärgerliche Ton, in dem sie gestellt wurde, der Mogens aus seinen Gedanken riss und ihn irritiert - und auch ein wenig verlegen - aufblicken ließ. Er rettete sich in ein nichts sagendes Lächeln, aber ihm wurde auch klar, dass Graves' verärgerter Ton nicht von ungefähr kam: Er konnte sich tatsächlich nicht erinnern, was er zuletzt gesagt hatte.
»Entschuldige«, sagte er. »Ich war... in Gedanken.«
»Ja, das scheint mir auch so.« Graves schüttelte seufzend den Kopf. »Großer Gott, Mann, da halte ich dir den wichtigsten wissenschaftlichen Vortrag dieses Jahrhunderts, und du hörst mir nicht einmal zu!«
Mogens war verwirrt, und umso mehr, als er das spöttische Glitzern in Graves' Augen bemerkte und ihm klar wurde, dass diese Worte wohl das sein mussten, was Graves für eine scherzhafte Bemerkung hielt. »Entschuldige«, sagte er noch einmal. »Wir sind hier genau unter dem Friedhof, sagst du?«
»Nicht direkt«, antwortete Graves. Er sah Mogens noch immer leicht vorwurfsvoll an, ging aber zu seiner Erleichterung nicht mehr auf dieses Thema ein. »Tom hat damals nur den Beginn eines halb verschütteten Tunnels gefunden. Den Schacht, durch den wir gerade heruntergestiegen sind, haben wir erst später angelegt.« Er machte eine Kopfbewegung. »Komm. Wir haben noch ein gutes Stück zu gehen. Wir können unterwegs weiter reden.«
Noch ein gutes Stück?, dachte Mogens verwundert. Sie befanden sich doch bereits im Herzen der unterirdischen Anlage. Er hatte sich heute so wenig wie gestern die Mühe gemacht, seine Schritte zu zählen, aber sie mussten mehr als hundert Meter unter der Erde zurückgelegt haben, seit sie die Leiter herabgestiegen waren. Er sah Graves fragend an, folgte ihm aber widerspruchslos, als dieser sich in Bewegung setzte und in geringem Abstand an der gewaltigen Totenbarke vorbeiging. Mogens selbst machte einen größeren Bogen um das Ding, als notwendig gewesen wäre. Dennoch hatte er das unheimliche Gefühl, dass die geschnitzten Augen der mannsgroßen Anubis-Statuen an Bug und Heck des Schiffes jeden seiner Schritte beobachteten.
Er schüttelte auch diesen Gedanken ab, aber es fiel ihm jetzt deutlich schwerer. Je tiefer sie in diese unterirdische Tempelanlage eindrangen, desto schwerer fiel es ihm, seine Gedanken in jenen ordentlichen, streng logischen Bahnen ablaufen zu lassen, die einem Wissenschaftler wie ihm anstanden.