»Aber mich?«, wunderte sich Mogens. »Wieso?«
Statt direkt zu antworten, sah ihn Graves auf eine Art an, die Mogens ein Frösteln den Rücken hinablaufen ließ, dann ging er mit schnellen Schritten weiter und steuerte die nächstgelegene Wand an. Er sagte immer noch nichts, wartete aber mit nun sichtbarer Ungeduld, bis Mogens zu ihm aufgeschlossen hatte, und hob dann seine Laterne höher. Mogens setzte zu einer weiteren Frage an.
Aber er sagte nichts. Sein Blick tastete immer hektischer und ungläubiger über die Wand, und er spürte, wie sein Herz zu rasen begann. Auch diese Wand war übersät mit Malereien und zum Teil ebenfalls ausgemalten Reliefarbeiten. Da waren die üblichen Gestalten aus der ägyptischen Götterwelt, Pharaonen und Schlachtenszenen, Kartuschen mit Hieroglyphen und vage vertraut anmutende Symbole - aber da war noch mehr. Zwischen den vertrauten Abbildern von Horus, Seth und Anubis waren andere, düsterere Umrisse: bizarr verformte Gestalten, die nichts ähnelten, was Mogens jemals gesehen hatte, ihn aber trotzdem mit einer kreatürlichen Furcht erfüllten, die es ihm fast unmöglich machte, die Bilder länger anzusehen. Dazwischen waren Schriftzeichen, sinnlos einander überschneidende Linien, die keinem erkennbaren Muster folgten, in Mogens aber das unheimliche Gefühl wachriefen, sich in einer nicht wirklich sichtbaren, aber dennoch vorhandenen Bewegung zu befinden.
»Was... ist das?«, murmelte er. Lag es wirklich nur an seiner eigenen Furcht, dass er das Gefühl hatte, irgendetwas aus den Gestalten, die sie umgaben, reagiere mit einem unwilligen Regen auf seine Frage?
»Ich hatte gehofft, du könntest es mir sagen«, antwortete Graves. Er klang nicht wirklich enttäuscht. Vielmehr so, als wäre auch das die sorgsam zurechtgelegte Antwort auf eine Frage, die er vorausgesehen hatte. Nicht zum ersten Mal begriff Mogens, dass Graves noch immer mit ihm spielte. Der Gedanke machte ihn wütend.
Graves gab ihm jedoch keine Gelegenheit, seinem Unmut Ausdruck zu verleihen, denn er trat von der Wand zurück und ging weiter. Während Mogens ihm folgte, vermied er es bewusst, die unheimlichen Bildnisse auf den Wänden genauer anzusehen. Aber es nutzte nichts. Es war, als hätte er sich besudelt, indem er die grässlichen Malereien nur mit seinen Blicken berührt hatte. Irgendetwas war in ihm zurückgeblieben, das er nicht los wurde, einem schlechten Geschmack auf der Zunge gleich, nachdem man in ein verdorbenes Lebensmittel gebissen hatte, und der sich einfach nicht fortspülen ließ. Dasselbe galt für etliche der zerbrochenen Statuen, an denen sie vorüber kamen. Viele hatten gewohnte Formen, aber nicht alle, und manche waren dergestalt, dass Mogens es vorzog, sie nicht genauer in Augenschein zu nehmen.
Eher um sich abzulenken, sah er in die andere Richtung und versuchte, sich über die sonderbare Symmetrie der unterirdischen Zeremonienkammer klar zu werden, aber auch dieser Versuch schlug fehl. Er war mittlerweile nicht einmal mehr sicher, ob seine erste Einschätzung richtig gewesen war. Vielmehr schien sich die Kammer auf fast unheimliche Weise jedem Versuch zu entziehen, ihre genaue Form zu erfassen; als wäre sie nach den Regeln einer Geometrie erbaut, die nicht die der Menschen war.
Graves steuerte eine breite, aus einem knappen halben Dutzend Stufen bestehende Treppe an - alle nicht nur unterschiedlich hoch, sondern auch auf eine mit Worten kaum zu beschreibende Weise in sich gedreht und verzerrt, die es nahezu unmöglich machte, sie auch nur anzusehen -, die zu einem fast deckenhohen Tor aus grauem Metall hinaufführte. Etwas in Mogens' Seele schien sich zusammenzuziehen, als er den Fehler beging, die düsteren Linien und Symbole anzusehen, die in das uralte Metall graviert waren.
Ohne dass es ihm selbst bewusst war, wurden seine Schritte immer langsamer, und ein leises Schwindelgefühl ergriff von ihm Besitz, als er hinter Graves die Treppe hinaufging. Der schwarze Stein unter ihm fühlte sich richtig an, aber er sah einfach nicht so aus, als wäre er für menschliche Füße gemacht - oder für die Füße auch nur irgendeines Wesens, das er sich vorstellen konnte.
Graves ließ sich seine Ungeduld nicht anmerken, auch wenn Mogens sie deutlich spürte, sondern wartete schweigend, bis er neben ihm angelangt war, bevor er die Laterne hob, um eine der beiden monströsen Statuen zu beleuchten, die das zweigeteilte Tor flankierten.
Um ein Haar hätte Mogens aufgeschrien.
Die Statue war an die sieben Fuß hoch und bestand aus schwarzem Gestein, das trotz seines sichtbaren Alters glänzte wie sorgsam polierter Marmor. Sie zeigte eine massige, zweibeinige Gestalt, die auf einem ungleichen, mit bedrohlichen Bildern und Symbolen übersätem Würfel hockte; ein missgestalter, aufgeblähter Balg wie der einer Kröte, plumpe, in breiten Schwimmfüßen endende Beine und muskulöse Arme, die zu ebenfalls fischartigen, dennoch aber mit grauenhaften Krallen bewehrten Händen mündeten, die wie zur Verhöhnung eines Gebets im Schoß der grotesken Kreatur gefaltet waren. Ein Kranz aus Dutzenden schlängelnder Tentakeln säumte den massigen Schädel, aus dem Mogens zwei fast handtellergroße, glotzende Augen über einem schrecklichen Papageienschnabel entgegenstarrten.
»Großer Gott«, flüsterte Mogens.
Graves hob seine Laterne ein wenig höher, sodass auch die Statue auf der anderen Seite des Tores für einen Moment aus den Schatten auftauchte. Die Haltung war eine andere, aber es war die gleiche, absurd-bizarre Kreatur. »Gott?« Graves schüttelte den Kopf. »Vielleicht. Die Frage ist nur, welcher.«
Seine Worte ließen Mogens einen neuerlichen, noch kälteren Schauer über den Rücken laufen. Vermutlich waren sie nur als Bonmot gedacht, vielleicht war es auch seine Art, die Spannung abzubauen, doch sie bewirkte bei Mogens das genaue Gegenteil. Hatte ihm der Anblick der beiden steinernen Kolosse bisher nur Unbehagen bereitet, so erfüllte er ihn nun plötzlich mit Furcht, die mit jedem Atemzug stärker wurde. Es fiel ihm immer schwerer, sich der absurden Vorstellung zu erwehren, von den beiden steinernen Dämonen schweigend und bedrohlich angestarrt zu werden. Trotz der Kunstfertigkeit, mit der sie geschaffen worden waren, bestand nicht der geringste Zweifel daran, dass sie aus nichts anderem als unbelebtem schwarzem Stein bestanden - und trotzdem wusste irgendetwas in Mogens mit unerschütterlicher Gewissheit, dass sie nur auf einen Anlass warteten, den allergeringsten Fehler, den er begehen mochte, um aus ihrem äonenalten Schlaf zu erwachen und sich auf ihn zu stürzen.
Es gelang ihm mit einiger Mühe, sich dieser durch und durch kindischen Vorstellung zu erwehren, nicht aber, sie ganz zu verscheuchen; der Gedanke blieb, irgendwo tief in ihm, verborgen im verschwiegensten Winkel seiner Gedanken, aber lauernd wie eine Spinne, die geduldig in ihrem Netz saß und auf ihre Gelegenheit wartete, sich auf eine ahnungslose Beute zu stürzen.
»Du hast mich gefragt, warum ich es den anderen nicht gezeigt habe«, fuhr Graves nach einer geraumen Weile fort, und mit leiserer, fast ehrfürchtig gesenkter Stimme. Er sprach auch nicht weiter, doch das wäre auch gar nicht notwendig gewesen. Mogens kannte die Antwort auch so. Dies hier war nicht das, wonach es auf den ersten Blick ausgesehen hatte. Die Kammer trug unzweifelhaft die Handschrift des alten Ägypten, doch hier wurden nicht nur Ra und Bastet verehrt, und die Gebete derer, die einst hier gekniet haben mochten, hatten längst nicht nur Isis und Osiris gegolten. Und es waren auch nicht nur die unheimlichen Malereien und Reliefs; nicht einmal allein der Anblick der monströsen Torwächter. Hier waren ältere, ungleich blasphemischere Götter verehrt worden, und die widernatürlichen Riten und Zeremonien hatten ihre Spuren hinterlassen, wie ein unheimliches Echo, das die Zeiten überdauert hatte und noch immer unhörbar in der Luft hing.
»Und warum... bin ich hier?«, fragte er mit belegter Stimme.
»Ich dachte, das wüsstest du bereits«, antwortete Graves leise. Er sah ihn einen Herzschlag lang durchdringend an, dann wandte er sich um und trat an das gewaltige Tor heran. Das flackernde Licht seiner Petroleumlampe erweckte die beiden monströsen Wächterstatuen zu scheinbarem Leben, sodass Mogens den unheimlichen Eindruck hatte, die gemeißelten Tentakel sich wie ein Nest wimmelnder Schlangen und Würmer bewegen zu sehen.