»Nun, zumindest soweit es Phillips betrifft, müssen Sie sich keine Sorgen mehr machen, Doktor«, antwortete Wilson. »Er wird Sie mit Sicherheit nicht mehr belästigen. Seine Leiche wurde heute Nacht unweit von hier gefunden.«
»Er ist tot?«, entfuhr es Mogens unwillkürlich, was ihm diesmal nicht nur einen Blick von Graves, sondern auch einen von Wilson eintrug. Er hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen.
»Das ist anzunehmen, nachdem man seinen Leichnam gefunden hat«, sagte Graves böse. Er wandte sich wieder zu Wilson um. »Was ist geschehen? Ein Unfall?«
»Das wissen wir noch nicht genau«, gestand dieser. »Sein Leichnam wird noch untersucht. Er ist in einem furchtbaren Zustand - als hätte ihn ein Raubtier angefallen und zerfleischt. Auch wenn ich mir beim besten Willen kein Raubtier vorstellen kann, das imstande wäre, so etwas zu tun.«
»Und jetzt glauben Sie, dass ich ihn umgebracht habe?«, fragte Graves höhnisch.
»Sie waren der Letzte, der mit Doktor Phillips gesprochen hat«, antwortete Wilson ruhig. »Seither hat ihn niemand mehr gesehen. Ich muss diese Fragen stellen.«
»Was Ihnen zweifellos das Herz bricht«, schnappte Graves. Er schüttelte zornig den Kopf. »Ich muss Sie enttäuschen, Sheriff. Ich werde dem Nächsten, der widerrechtlich einen Fuß auf meinen Grund und Boden setzt, möglicherweise eine Ladung Schrotkugeln auf den Pelz brennen, aber ich bringe niemanden um. Und ich pflege widerrechtliche Eindringlinge auch nicht in Stücke zu reißen.« Graves machte eine unwillige Geste. »Wenn das alle Fragen gewesen sind, dann tut es mir Leid, Ihnen nicht helfen zu können, Sheriff.«
Wilson drehte sich zu Mogens um und setzte seinen übergroßen Stetson wieder auf - was seine Gestalt aber keineswegs imponierender erscheinen ließ, sondern eher komisch. »Und Sie, Doktor...?«
»VanAndt«, half Mogens aus. »Professor VanAndt.«
»Professor VanAndt.« Wilson zuckte mit den Schultern, um klar zu machen, wie wenig Respekt ihm Mogens' akademischer Titel abnötigte. »Haben Sie Doktor Phillips gestern gesehen, Professor?«
»Nein«, antwortete Mogens wahrheitsgemäß.
»Das ist bedauerlich.« Wilson seufzte. »Sollte Ihnen noch irgendetwas einfallen, was der Aufklärung dieser schrecklichen Geschichte dienlich sein könnte, dann benachrichtigen Sie mich bitte unverzüglich, Professor. Und Sie ebenfalls, Doktor Graves.« Er tippte mit Zeige- und Mittelfinger der Linken gegen den Rand seines albernen Cowboyhutes, stieg in den Wagen und fuhr davon.
Graves sah ihm finster nach, bis er - jetzt ebenso langsam, wie er zuvor schnell gefahren war - verschwunden war. Dann wandte er sich mit kaum weniger finsterem Gesichtsausdruck an Mogens.
»Dieser kleine, dumme Mann«, sagte er. »Er kommt sich vor wie Sherlock Holmes und Wyatt Earp in einer Person, nur weil er schon einmal das Wort Bluff gehört hat. Was bildet er sich ein, wer er ist?«
»Dann glaubst du nicht, dass ich...?«, begann Mogens, allerdings nur, um auf der Stelle unterbrochen zu werden.
»Dass du irgendetwas gehört oder gesehen haben könntest, das diesen Dummkopf von Sheriff interessieren müsste?« Graves grinste wölfisch - und Mogens hatte dieses Gefühl wortwörtlich. Im noch schwachen Licht der Dämmerung, die gerade erst heraufzuziehen begann, erinnerte sein Gesicht Mogens tatsächlich an das eines Wolfs, der mit gefletschten Zähnen seine Beute musterte. »Wo denkst du hin? Selbstverständlich nicht! Der verlogene kleine Gesetzeshüter macht mir Schwierigkeiten, seit ich hierher gekommen bin, aber man kann ihm eine gewisse Schläue nicht absprechen. Er weiß, dass du neu hier bist und versucht einen Keil zwischen uns zu treiben. Das ist die Gefahr an solchen Leuten: Sie sind vielleicht nicht sonderlich intelligent, aber man sollte sich davor hüten, sie zu unterschätzen.«
Mogens hatte Mühe, seinen Worten zu folgen. Irgendetwas stimmte mit Graves' Gesicht nicht. Es schien sich... zu verändern. Das Wölfische darin nahm zu, ohne dass es sich dabei um eine wirklich materielle Veränderung zu handeln schien. Dennoch war sie unübersehbar. Durch Graves' ausgezehrte, aber dennoch immer noch menschliche Züge schimmerte in immer stärkerem Maße das Raubtier, das darunter verborgen war.
»Aber warum sollte der Sheriff das tun?«, fragte er mühsam. Nicht weil er sich diese Frage tatsächlich stellte, sondern weil es einfach das Erste war, was ihm einfiel. Er musste aufhören, Graves anzustarren. Aber er konnte es nicht.
»Weil er dafür bezahlt wird«, schnappte Graves. »Diese verdammten Maulwürfe versuchen mich von hier zu vertreiben, seit ich gekommen bin. Aber das wird ihnen nicht gelingen!« Der Zorn in seinen dunklen, mit einem Male viel tiefer in den Höhlen zu liegen scheinenden Augen loderte zu blankem Hass auf. Ein dünner Speichelfaden lief sein Kinn herunter, offensichtlich ohne dass er es bemerkte.
»Und welchen Grund sollten die Geologen dafür haben?«, fragte Mogens. »Sie sind Wissenschaftler wie wir!«
»Vergleiche mich nie wieder mit diesen... diesen Dilettanten!«, knurrte Graves. Nicht im übertragenen Sinne, dachte Mogens schaudernd. Er knurrte tatsächlich. »Und jetzt geh frühstücken, Mogens. Wir haben einen langen anstrengenden Tag vor uns. Ich erwarte dich in einer halben Stunde unten im Tempel.«
9.
Schon aus ebenso purem wie kindischem Trotz heraus erschien Mogens nicht pünktlich nach Ablauf einer halben Stunde an seinem neuen Arbeitsplatz, sondern erst, nachdem mehr als die doppelte Zeitspanne verstrichen war. Aber das war nicht der einzige Grund. Es war nicht einmal der hauptsächliche Grund. Der eigentliche Grund für diese Verspätung war, dass er sich davor fürchtete, Jonathan Graves wiederzusehen.
Mogens versuchte vergeblich, den Gedanken als so lächerlich abzutun, wie er selbst in seinen eigenen Ohren klang. Es gab keinen Grund, Graves zu fürchten. Noch vor Wochenfrist hatte er jeden Grund dafür gehabt, aber dieser Moment war vorbei; er hatte sich seiner persönlichen Nemesis gestellt, und nun gab es keinen Anlass mehr, vor Graves zu zittern. Er konnte ihn hassen, ihn verachten und zutiefst verabscheuen - und von all diesen Empfindungen war mehr als genug in ihm -, aber er brauchte keine Angst mehr vor ihm zu haben. Aber genau das hatte er.
Mogens' Bewegungen wurden immer langsamer, als er die Leiter herunterstieg. Während er den niedrigen Gang zur ersten Höhle entlangschritt, versuchte er sich über seine eigenen Empfindungen klar zu werden. Natürlich wusste er, dass sich Graves' Gesicht vorhin nicht wirklich verändert hatte. Es musste am Licht gelegen haben, oder an seiner eigenen Müdigkeit und Nervosität, vielleicht auch an einer Kombination von allem. Menschen verwandeln sich nicht in... Dinge, die in der Dämmerung auseinander fließen und sie zu neuer, schrecklicherer Gestalt zusammensetzen. Nicht einmal Jonathan Graves tat so etwas, auch wenn Mogens keine Skrupel gehabt hätte, ihm sogar solcherlei Abscheulichkeiten zuzutrauen. Das Problem war, dass er bereit war, diesen Unsinn zu glauben - jeden Unsinn zu glauben, solange es Jonathan Graves nur schadete.
Tatsächlich war ihm im Nachhinein klar geworden, dass ein nicht geringer Teil von ihm vorhin geradezu begierig darauf gewartet hatte, dass Wilson mehr als nur einen vagen Verdacht äußern und dass sich dieser Verdacht als wahr herausstellen würde. Vielleicht war es in Wahrheit nicht so sehr Graves, um den er sich Sorgen machen sollte, sondern er selbst. Dass er Graves niemals wirklich verzeihen konnte, sondern zeit seines Lebens hassen oder zumindest verachten würde, das war ihm ebenso klar, wie es auch Graves klar sein musste. Mogens war jedoch zutiefst erschrocken über die Intensität seines Hasses. Vielleicht stimmte es, was die Psychologen sagten, dass ein gewisses Maß an Rachegedanken, ja, sogar Hass durchaus gesund und bei der Überwindung eines traumatischen Erlebnisses hilfreich war. Doch das, was Mogens in sich spürte, war ganz gewiss nicht mehr gesund.