»Natürlich«, sagte Mogens.
Sie gingen weiter, nachdem Graves wieder die Karbidlampe aus der Nische in der Wand genommen und eingeschaltet hatte. Das schwarze Elektrokabel, so dick wie Mogens' Handgelenk, ringelte sich vor ihnen in der Dunkelheit und wies ihnen den Weg, endete aber vor dem Schutthaufen, der den Gang von der eigentlichen Zeremonienkammer trennte. Wie am Vortage kletterte Graves voraus. Diesmal ließ er die eingeschaltete Lampe oben auf der Halde liegen, sodass ihr grelles Licht Mogens zumindest nicht mehr die Tränen in die Augen trieb, als er ihm folgte.
Graves hatte diesmal in der Kammer gleich vier Sturmlaternen entzündet, als Mogens sie betrat. Das Licht war somit doppelt so hell, schien die Dunkelheit aber dennoch nicht nennenswert mehr zu vertreiben, sondern die Schwärze jenseits seiner vagen Grenzen noch zu betonen. Mogens hatte erneut das Gefühl, große, sich auf sonderbar ungesunde Weise bewegende Schemen zu sehen, die sich dem Licht näherten, es aber nicht wirklich zu berühren wagten.
»Da du hier bist, muss ich dich nicht mehr fragen, wie du dich entschieden hast, nehme ich an«, sagte Graves, während er Mogens gleich zwei der vier Lampen reichte, die er entzündet hatte. »Also lass uns beginnen. Wir haben nicht alle Zeit der Welt.«
Mogens griff gehorsam nach den beiden Laternen und folgte Graves, der zielstrebig die so seltsam unregelmäßige Treppe ansteuerte, welche zu dem monströsen Tor mit seinen beiden noch viel monströseren Torwächtern hinaufführte. Das hellere Licht hätte den Effekt mildern sollen, aber das genaue Gegenteil war der Falclass="underline" Der flackernde Schein schien das unheimliche Spiel der Schatten und vermeintlichen Bewegung noch zu verstärken. Sie sollten nicht dort hinaufgehen. Dieses gewaltige Tor aus unzerstörbarem Metall hatte einen Sinn, so wie auch die beiden oktopoiden Wächterdämonen nicht grundlos dort oben standen oder nur der Fantasie des prähistorischen Künstlers entsprungen waren, der sie erschaffen hatte.
»Und was genau erwartest du jetzt von mir?« Mogens fühlte sich hilflos, schlimmer noch: deplatziert. Im wortwörtlichen Sinne an einem Ort, an dem er nicht sein sollte. An dem kein Mensch sein sollte.
Graves war ein paar Schritte vorausgeeilt, blieb aber genau wie Mogens stehen, bevor der Schein seiner Lampen die monströsen Statuen vollends aus der Dunkelheit reißen konnten, in der sie seit Jahrtausenden geschlafen - und gewartet? - hatten. »Wenn ich die Antwort auf diese Frage wüsste, wärst du nicht hier«, sagte er.
Er hob eine seiner Laternen, aber ihr Licht schien die riesige krakengesichtige Kreatur auf ihrem schwarzen Steinsockel nicht wirklich zu berühren, sondern im allerletzten Moment davor zurückzuprallen wie eine Hand, die der Flamme um ein Haar zu nahe gekommen wäre und im allerletzten Moment zurückzuckte, bevor sie sich verbrennen konnte. Im Gegenzug schien die unheimliche Steingestalt mit einem jähen Satz auf sie zuzuspringen, ohne die zitternde Barriere indes weiter überwinden zu können, als das Licht zuvor die Schatten vertrieben hatte. Doch sie zogen sich auch nicht wieder zurück, sondern krallten sich in den Rand aus zerbrechlicher Helligkeit, um ihn geduldig zu belagern und daran zu nagen, so wie die Finsternis das Licht seit Anbeginn der Zeiten belagert hatte - Kombattanten in einem Krieg, der ewig währen mochte, an dessen letztendlichem Ausgang es aber keinen Zweifel gab.
Statt sich der Treppe und damit dem Tor weiter zu nähern, machte Mogens im rechten Winkel kehrt und steuerte die nächstgelegene Wand an, um die Malereien und Hieroglyphen darauf einer ersten, gründlicheren Untersuchung zu unterziehen.
Was er erfuhr, war schlimm genug.
10.
Während der nächsten zwei oder drei Tage sah er seine neuen Kollegen so gut wie gar nicht - was zu einem Gutteil daran lag, dass zumindest McClure und Hyams ihm aus dem Weg gingen und er auf Mercers Gesellschaft von sich aus keinen besonderen Wert legte. So sympathisch ihm der fettleibige Trunkenbold auch auf den ersten Blick vorgekommen sein mochte, war ihm seine jovialoberflächliche Art im Grunde doch zutiefst zuwider.
Es machte ihm nichts aus. Mogens war Zeit seines Lebens ein Einzelgänger gewesen, und in den zurückliegenden Jahren hatte er sich zudem an das Alleinsein gewöhnt. Dazu kam, dass ihn seine Arbeit bald so in Beschlag nahm, dass er jedwede Störung ohnehin nur als Belästigung empfunden hätte. Tom war an jenem Tag nicht mehr zurückgekehrt, um das Stromkabel zu verlegen und die Lampen anzuschließen, was Mogens aber nicht wirklich als Manko empfunden hatte. Ganz im Gegenteil war ihm tief in seinem Innern nicht wohl bei dem Gedanken, die unterirdische Katakombe mit von Menschen geschaffenem Kunstlicht zu fluten. Und es kam noch etwas hinzu: Je mehr der unheimlichen Symbole und Bildnisse er fand, desto weniger wollte er sie sehen. Es war fast absurd: Im gleichen Maße, in dem Mogens die Geheimnisse der alten Bilderschrift zu enträtseln begann, wuchs die Faszination, mit der ihn die Geschichte erfüllte, die sie zu erzählen hatte - aber auch seine Furcht. Bald begann er die Dunkelheit, die ihn bei seinem ersten Besuch hier unten mit solchem Unbehagen erfüllt hatte, fast als einen Freund zu betrachten, verbarg sie doch die unheimlichen Bilder und gemeißelten Götzenstatuen barmherzig vor seinem Blick. Wenn er allein in der Kammer war, reduzierte er die Beleuchtung meist auf ein Minimum und arbeitete oft genug nur im Schein einer Petroleumlampe.
Die meiste Zeit aber verbrachte er ohnehin allein in seiner Hütte und in der Gesellschaft der Bücher, die Graves herangeschafft hatte. Ihm war rasch klar geworden, wie wenig Sinn es machte, ziel- und wahllos herumzustochern. Er musste das Rätsel dieser uralten Bildersprache - denn um nichts anderes konnte es sich seiner Meinung nach handeln - lösen, wollten sie dem viel größeren, düsteren Geheimnis der Kammer auf die Spur kommen.
Was nichts anderes bedeutete, als dass sich Mogens der Aufgabe gegenübersah, eine vollkommen unbekannte Sprache zu entschlüsseln, deren Wurzeln nicht nur womöglich Tausende von Jahren in die Vergangenheit zurückreichten, sondern die auch mit nichts zu vergleichen war, was er jemals gesehen hatte. Jeder andere an Mogens' Stelle hätte vielleicht vor der schieren Größe dieser Aufgabe kapituliert, Mogens aber sah nur die Herausforderung, die er - ohne wirkliche Überzeugung, sie zu bewältigen, aber dennoch mit Begeisterung - annahm.
Zweifellos hätte er Hyams' Hilfe dabei gut gebrauchen können, denn auch wenn das alte Ägypten nie sein spezielles Fachgebiet gewesen war - um ehrlich zu sein, hatte es ihn nie sonderlich interessiert -, erkannte er doch praktisch auf den ersten Blick, dass es sich bei den Wandmalereien um ein schier unentwirrbares Konglomerat aus ägyptischen Hieroglyphen und einer anderen, viel älteren Schrift handelte. Sicher wäre es Hyams ein Leichtes gewesen, diese beiden vollkommen differenten Sprachen mit einem einzigen Blick zu unterscheiden; Mogens kostete es einen Tag, auch nur ein grobes Raster zu entwickeln, mittels dessen er dasselbe auch nur versuchen konnte. Dennoch erwog er nicht einmal den Gedanken, sie um ihren Rat zu fragen; davon abgesehen, dass sie sich vermutlich glattweg geweigert hätte, bei seinem »Hexenwerk« mitzuhelfen, würde Graves mit Sicherheit nicht zulassen, dass eine weitere Person das Geheimnis seines Allerheiligsten entdeckte.
Er kam jedoch auch so - wenn auch langsam - voran. Am Abend des zweiten Tages hatte er eine Art grobes Alphabet erarbeitet - um der Wahrheit die Ehre zu geben: zu einem nicht geringen Teil erraten - und begann nach Ähnlichkeiten zu suchen. Zu seiner Überraschung fand er sie.
Er brauchte einen weiteren Tag, doch schließlich stieß er in einem der Bücher auf ein Symbol, das ihm vage bekannt vorkam. Es war nicht identisch, nicht einmal wirklich ähnlich; jedem anderen wäre vielleicht nicht einmal eine Ähnlichkeit aufgefallen, aber irgendetwas daran... erinnerte Mogens an die unheimlichen Wandmalereien. Von dem Symbol, das er auf einer der uralten, handgeschriebenen Seiten entdeckte, ging die gleiche unheimliche Ausstrahlung aus, dasselbe Kratzen an den Pforten seiner Seele, das er auch unten in der Katakombe verspürt hatte.