Jenem ersten Symbol folgte ein weiteres, und noch eines und noch eines, und endlich war es, als hätte sich in seinem Geist eine Tür aufgetan, hinter der das Begreifen, das ihm bisher gefehlt hatte, säuberlich in langen Regalen aufgestapelt lag und nur darauf wartete, von ihm genutzt zu werden. Mehr als einmal wurde ihm selbst unheimlich, als er sich der Leichtigkeit bewusst wurde, mit der er in die Geheimnisse einer Sprache eindrang, die untergegangen war, bevor es Menschen auf dieser Welt gab. Aber genau so war es. Nachdem Mogens einmal durch jene geheimnisvolle Tür getreten war, fiel es ihm nicht nur zunehmend leichter, sich das Verständnis der verschlungenen Buchstaben und Bildsymbole zu eigen zu machen. Er entwickelte auch ein wachsendes Verständnis dafür, was diese Sprache war, nämlich viel mehr als eine Aneinanderreihung von Worten und Informationen, die das Vermächtnis derer weitergaben, die sie gesprochen hatten, sondern in gewissem Sinne ein Teil ihrer Schöpfer selbst. Es gab einen fundamentalen Unterschied zwischen dieser und jeder anderen Sprache, der Mogens jemals begegnet war: Diese Sprache hatte eine Seele.
Am Abend des dritten Tages, nachdem er mit seiner Arbeit begonnen hatte, ließ Graves ihn durch Tom in die Zeremonienkammer rufen, was ungewöhnlich genug war. Normalerweise verließen sie alle bei Einbruch der Dunkelheit die unterirdische Grabungsstätte, und Graves duldete es nicht, dass sich jemand allein »dort unten herumtrieb«, wie er es ausgedrückt hatte. Noch ungewöhnlicher erschien es Mogens, dass der Generator noch lief; während er Tom zum Zelt folgte, konnte er wieder das schwache Vibrieren des Bodens unter seinen Füßen spüren. Und obwohl er längst wusste, dass es nur das Arbeiten der großen Maschine war, das er wahrnahm, lief ihm ein Schauer über den Rücken; denn er hatte mehr denn je das unheimliche Empfinden, das Regen eines gewaltigen lebenden Wesens tief unter seinen Füßen zu spüren.
Allein um diesen bizarren Gedanken zu vertreiben, schritt er schneller aus, sodass er Tom einholte, noch bevor sie das Zelt und die nach unten führende Leiter erreichten. »Hat Doktor Graves gesagt, was er von mir will?«, fragte er.
Tom hob die Schultern und griff mit beiden Händen nach der Leiter. »Nein. Er hat mir nur gesagt, ich soll Sie holen.« Nachdem er zwei Sprossen weit hinabgeklettert war, fügte er hinzu: »Er war ziemlich ungeduldig.«
Das ist nichts Besonderes, dachte Mogens. Ganz im Gegenteil hatte er Graves niemals anders als ungeduldig und unwirsch erlebt. Aber da war etwas in Toms Stimme, das ihn aufhorchen ließ, ein ganz sachtes Zittern, als spräche er über etwas, worüber er eigentlich nicht reden wollte - und das Mogens außerdem verriet, dass da noch mehr war. Etwas war zwischen Tom und Graves vorgefallen, aber Mogens verbot sich, eine entsprechende Frage zu stellen.
Seit jener Nacht auf dem Friedhof war die Distanz zwischen Tom und ihm deutlich größer geworden, was Mogens nicht verstand, aber zutiefst bedauerte. Er hatte sich jedoch vorgenommen, nicht in Tom zu dringen, um den Jungen nicht noch zusätzlich zu verschrecken. Früher oder später, so hoffte er wenigstens, würde Tom schon von sich aus wieder Vertrauen zu ihm fassen. So folgte er ihm schweigend nach unten in den Tempel und durch die offen stehende Geheimtür. Tom ging mit so schnellen Schritten voraus, dass Mogens ihn nicht noch einmal ansprechen musste, um zu begreifen, dass er nicht reden wollte.
Tom hatte den Schutthaufen am Ende des Ganges während der letzten Tages weit genug abgetragen, dass es keines halsbrecherischen Kletterkunststücks mehr bedurfte, um in die dahinter liegende Kammer zu gelangen, aber er blieb zwei Schritte davor stehen und deutete mit einer unbehaglichen Kopfbewegung nach vorne. »Doktor Graves erwartet Sie dort.«
»Du kommst nicht mit?«
»Ich... geh nicht gerne dort hinein«, antwortete Tom. »Es ist ein unheimlicher Ort. Ich würd lieber hier draußen warten, wenn's Ihnen nichts ausmacht.«
Mogens nickte nur. Er konnte Tom besser verstehen, als dieser wahrscheinlich ahnte. Obwohl ihn der Inhalt der Kammer in zunehmendem Maße faszinierte, wuchs doch auch gleichzeitig die Furcht, die er vor dem empfand, was hinter ihren Geheimnissen lauern mochte. Die Tür, durch die er gegangen war, war nicht die letzte. Hinter ihr, noch weit entfernt, aber bereits in Reichweite, wartete eine weitere Tür, hinter der ein viel dunkleres, vielleicht tödliches Rätsel verborgen lag.
»Du brauchst nicht auf mich zu warten«, sagte er. »Ich finde den Rückweg schon allein. Es ist spät.«
»Das macht nichts«, antwortete Tom. »Außerdem muss ich sowieso noch nach dem Generator sehen. Der Treibstoff muss nachgefüllt werden.«
Mogens widersprach nicht mehr, obwohl der Teil von ihm, der ganz eindeutig nicht in diese Kammer gehen wollte, es liebend gern getan hätte. Stattdessen kletterte er einigermaßen geschickt über den kleiner gewordenen Schutthaufen hinweg und richtete sich auf der anderen Seite wieder auf.
Zu seiner Überraschung war der Raum nahezu dunkel. Graves hatte nur eine einzige der zahlreichen Glühlampen eingeschaltet, die Tom auf seine Anweisung hin installiert hatte, sodass es nur eine einsame verlorene Insel aus gelblicher Helligkeit irgendwo am jenseitigen Ende des großen, asymmetrischen Raumes gab. Von Graves selbst war keine Spur zu sehen, obwohl Tom gesagt hatte, dass er hier auf ihn wartete.
»Jonathan?«, rief er. Er bekam keine Antwort, abgesehen allerhöchstens von einem vagen Rascheln irgendwo in der Dunkelheit, das aber ebenso gut seiner eigenen überreizten Fantasie entsprungen sein konnte. Schließlich zuckte er mit den Schultern und tastete sich mit ausgestreckten Händen dorthin vor, wo Tom den Lichtschalter an der Wand befestigt hatte.
»Nein, tu das nicht - bitte.«
Mogens fuhr erschrocken zusammen und in der gleichen Bewegung herum. Obwohl er Graves' Stimme zweifelsfrei erkannt hatte, begann sein Herz für einen Moment wie wild zu klopfen, während er aus aufgerissenen Augen in die Dunkelheit starrte. Er hatte sich die Bewegung nicht nur eingebildet. Das Rascheln wiederholte sich, dann bewegte sich ein Schatten am Rande des beleuchteten Bereichs.
»Ich habe ein wenig Kopfschmerzen«, fuhr Graves fort. »Das Licht tut meinen Augen weh.«
Mogens hob die Schultern. Ihm war nicht wohl bei der Vorstellung, in fast völliger Dunkelheit durch den mit Trümmern und zerborstenen Statuen übersäten Raum zu gehen, aber aus irgendeinem Grund war es ihm unmöglich, Graves zu widersprechen. Statt seine Handbewegung zum Lichtschalter fortzusetzen, ging er zu der Wandnische, in der Graves die Sturmlaternen abgestellt hatte, und entzündete eine davon. Dagegen schien Graves keine Einwände zu haben, also machte er sich auf den Weg und ging mit vorsichtigen Schritten zwischen den wirr durcheinander liegenden Trümmerstücken hindurch.
»Was gibt es denn so Dringendes, dass du mich zu dieser späten Stunde hast rufen lassen?«, fragte er.
»Ich wollte sichergehen, dass wir auch wirklich allein sind«, antwortete Graves. »Jemand hat sich an dem Vorhängeschloss zu schaffen gemacht. Die anderen werden allmählich misstrauisch.«
»Hyams?«
»Vielleicht«, antwortete Graves. »Obwohl ich auch Mercer nicht traue. Er trinkt.«
»Das ist nichts Neues.« Mogens versuchte vergeblich, Graves' Gestalt genauer zu erkennen, während er sich ihm näherte. Irgendetwas daran irritierte ihn, aber er konnte nicht sagen, was. Und als hätte Graves seine Gedanken gelesen, wich er ein kleines Stück weiter in die Dunkelheit zurück, sodass er ein Schemen mit vage zerfließenden Rändern blieb, auch als Mogens näher kam.