»Was er in seiner Freizeit treibt, geht mich nichts an«, antwortete Graves. »Aber als ich ihn heute Mittag gesprochen habe, hatte er eine Alkoholfahne. Es würde mich nicht wundern, wenn er herumschnüffelt.« Auch mit seiner Stimme stimmte etwas nicht, dachte Mogens. Es war ganz eindeutig Jonathan Graves' Stimme, aber sie wurde von einem unheimlichen, rasselnden Geräusch begleitet, als bereite es ihm Mühe, zu sprechen, vielleicht sogar zu atmen. Er fragte sich, ob Graves vielleicht krank war.
»Aber deshalb habe ich Tom nicht gebeten, dich zu holen«, fuhr Graves fort. »Wie weit bist du mit deiner Arbeit, Mogens?«
»Ich habe gerade erst angefangen«, sagte Mogens. »Das weißt du doch.«
»Dennoch muss ich dich ein wenig um Eile bitten. Uns bleibt nicht mehr viel Zeit. Heute ist bereits der Dreißigste.«
»Und?«
»In wenigen Tagen ist Vollmond«, erinnerte Graves. Er löste sich von seinem Platz und ging mit sonderbar mühevoll anmutenden Schritten auf die Metalltür zu. Mogens fiel auf, wie sorgsam er darauf zu achten schien, dem Licht nicht zu nahe zu kommen, weder dem der elektrischen Glühlampe noch dem seiner Sturmlaterne. »Wenn wir das Tor bis dahin nicht geöffnet haben, müssen wir einen weiteren Monat warten.«
»Aber das ist doch nur eine Theorie«, sagte Mogens. »Und selbst wenn: Du wartest jetzt seit einem Jahr darauf, dieses Tor zu öffnen. Welchen Unterschied macht da ein weiterer Monat?«
»Vielleicht keinen«, antwortete Graves. »Vielleicht auch den zwischen Sieg oder Niederlage, Mogens. Zwischen Erfolg und Untergang.«
»Seit wann dieser Hang fürs Melodramatische?«, fragte Mogens.
»Oh, ich meine das durchaus ernst«, antwortete Graves. »Ich bin nicht sicher, wie lange das alles hier noch existiert - zumindest in einer Form, die uns allen zugänglich ist.«
»Wie meinst du das?«, fragte Mogens verwirrt.
»So bitter ernst, wie es sich anhört«, antwortete Graves. Er trat einen Schritt von der gewaltigen grauen Metallplatte zurück, drehte sich dann zu Mogens herum und seufzte, ein tiefer, rasselnder Laut, der Mogens einen kalten Schauer über den Rücken laufen ließ. »Erinnerst du dich daran, was Tom dir über den Sumpf erzählt hat, Mogens, und über den Friedhof, der allmählich darin versinkt?«
Mogens nickte.
»Der Friedhof ist nicht das Einzige, was versinkt«, sagte Graves.
Es dauerte einen Moment, bis Mogens begriff, was Graves damit sagen wollte. »Du meinst...«
»Dies alles hier versinkt allmählich in der Erde«, sagte Graves leise. »Hast du dich nie gefragt, warum sich die Schöpfer dieses Tempels die Mühe gemacht haben, ihn so tief in den Boden zu legen? Ich glaube, das war gar nicht der Fall. Diese ganze Anlage war einst oberirdisch, Mogens, vielleicht in einen Fels gemeißelt, vielleicht auch eine Pyramide wie die der Azteken und Inkas. Im Laufe der Millennien ist sie versunken, langsam, aber unerbittlich. Es muss Jahrtausende gedauert haben, doch irgendwann war sie gänzlich versunken, und nicht lange danach haben die Menschen sie vergessen.« Er lachte leise. »Als unsere Vorfahren dann dieses Land besiedelten und den Friedhof anlegten, da ahnten sie nichts von alledem hier. Und wie sollten sie auch?«
»Selbst wenn es so wäre...«, begann Mogens, wurde aber sofort wieder von Graves unterbrochen.
»Es geht schneller, Mogens«, sagte er. »Ich weiß nicht, warum, aber der Prozess beschleunigt sich. Der Sumpf hat Jahrtausende gebraucht, um diesen Tempel zu verschlingen, und kaum ein Jahrhundert, um sich auch des Friedhofs zu bemächtigen. Als ich das erste Mal hier war, da hatte die Leiter, die hier herunterführte, zwei Sprossen weniger.«
»Aber wie kann das sein?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Graves. »Alles, was ich weiß ist, dass uns nicht mehr allzu viel Zeit bleibt. Ich bin nicht sicher, dass wir noch bis zum nächsten Vollmond warten können.«
»Du weißt nicht, was du da von mir verlangst«, sagte Mogens. »Das hier ist etwas vollkommen Unbekanntes. Vielleicht sind wir beide tatsächlich die ersten Menschen seit Jahrtausenden, die diese Schriftzeichen hier zu sehen bekommen, vielleicht seit noch viel längerer Zeit. Welche Kultur auch immer das hier erschaffen hat: Sie ist seit unendlich langer Zeit verschwunden.«
»Das weiß ich«, antwortete Graves.
»Aber du weißt anscheinend nicht, was es bedeutet«, antwortete Mogens gereizt. »Niemand hat so etwas je gesehen: Es gibt keine Literatur, keinerlei Anhaltspunkte, niemanden, den ich um Rat fragen könnte.«
»Und dennoch ist es dir gelungen, die Bedeutung dieser Schrift zu enträtseln«, sagte Graves.
Mogens starrte ihn an. »Woher weißt du das?«
»Ist es etwa nicht wahr?«
»Ich habe ein paar Worte und Symbole entziffert, das ist wahr«, gestand Mogens. Er war ebenso überrascht wie verwirrt, aber er spürte auch einen wachsenden Zorn in sich. Er hatte mit niemandem über die Fortschritte bei seiner Arbeit gesprochen, auch nicht mit Graves, und das bedeutete nichts anderes, als dass Graves ihn bespitzeln ließ. Es war nicht sonderlich schwer zu erraten, von wem.
»Reiß dem armen Tom nicht den Kopf ab, Mogens«, sagte Graves. Anscheinend war es im Moment nicht besonders schwer, seine Gedanken zu erraten. »Ich musste ziemlich massiv werden, um etwas von ihm zu erfahren. Der Junge scheint einen Narren an dir gefressen zu haben. Du hattest also Erfolg?«
»Versprich dir nicht zu viel davon«, grollte Mogens. »Wie gesagt: Ich glaube die Bedeutung einiger weniger Symbole entziffert zu haben, aber das bedeutet nicht, dass ich diese Sprache lesen könnte - falls es sich überhaupt um eine Sprache handelt. Und selbst wenn ich es könnte«, fügte er rasch und mit leicht erhobener Stimme hinzu, als Graves dazu ansetzte, etwas zu sagen, »hieße das erst einmal gar nichts.«
»Wieso?«, schnappte Graves.
»Nimm nur die alten Römer und Griechen zum Vergleich«, antwortete Mogens. »Ihre Sprachen sind längst bekannt; man lernt sie heute in der Schule. Und trotzdem sind noch lange nicht alle Geheimnisse dieser beiden großen Kulturen enträtselt, und es gibt Schriftzeugnisse aus ihrer Frühzeit, die wir bis heute nicht lesen können. Das hier... das hier ist etwas vollkommen Anderes. Hunderte von Wissenschaftlern würden ein Jahrzehnt benötigen, um auch nur die Bedeutung dieses einen Raumes zu entschlüsseln. Und du erwartest von mir, dergleichen in vier oder fünf Tagen zu bewerkstelligen?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, Jonathan - was du verlangst, ist unmöglich.«
»Unsinn!« Graves' Stimme war plötzlich wie ein Bellen, und Mogens konnte den brodelnden Zorn spüren, der die Gestalt, die wenige Schritte vor ihm in den Schatten stand, erfüllte. Graves schwieg eine oder zwei Sekunden, doch als er weitersprach, hatte er sich wieder halbwegs in der Gewalt.
»Nun, nachdem du mir ausführlich erklärt hast, was du nicht kannst, Mogens, warum zeigst du mir nicht einfach, was du kannst?« Er machte eine ausladende Geste. »Nur keine Scheu. Ich habe großes Vertrauen in deine Fähigkeiten. Wie mir scheint, größeres als du selbst.«
Mogens war nahe daran, einfach auf dem Absatz kehrtzumachen und zu gehen. Stattdessen jedoch wandte er sich mit einem Ruck um und trat an den schmalen Ausschnitt der Wand heran, der von der einzigen brennenden Lampe erhellt wurde.
Und etwas sehr Sonderbares geschah: Mogens hatte die verschlungenen Bildsymbole kaum angesehen, da begann er ihre Bedeutung zu verstehen.
Es war nicht so wie in den vergangenen beiden Tagen, als er an seinem Pult gestanden und die Notizen, die er sich hier unten gemacht hatte, mit den Zeichnungen in Graves' Büchern verglichen hatte. Das Gefühl, das ihn jetzt überkam, war ungleich intensiver, und es ging tiefer als alles, was er jemals zuvor erlebt hätte. Es war nicht so, dass er die Worte verstand, für die diese düsteren Symbole standen. Das war unmöglich. Kein menschliches Wesen hätte die Worte jener uralten Sprache verstehen oder gar aussprechen können, ohne dass sein Geist daran zerbrochen wäre wie ein dünnes Kristallglas unter einem Hieb von Thors Hammer.