Diesmal war der Schlag so heftig, dass er ihm wirklich für einen Moment das Bewusstsein raubte. Aber es konnte wortwörtlich nur ein Augenblick gewesen sein, denn als er die Augen wieder öffnete, war er noch im Begriff, an der Wand zu Boden zu gleiten. Die Welt rings um ihn herum brüllte und verbog sich, und das unheimliche Knirschen und Mahlen hatte ihn endgültig eingeholt; nur, dass er es viel mehr spüren konnte als hören. Der Korridor brach zusammen.
Jetzt.
Mogens stemmte sich keuchend in die Höhe, aber irgendetwas schien mit der Zeit nicht mehr zu stimmen, so als hätte das Beben auch ihr Gefüge beschädigt. Mogens stemmte sich mit der Kraft purer Todesangst in die Höhe, und er war schnell, und dennoch schien alles, was er tat, grotesk langsam zu gehen, als eilten die Geschehnisse ihm so unerbittlich voraus wie ein Schatten. Die Wand, an der er lehnte, begann sich plötzlich zu verbiegen und zu zucken, als wäre sie nur ein kunstvolles dreidimensionales Bild auf dünnem Papier, und Mogens begriff, dass der Stollen unwiderruflich zusammenbrach, eine grausame Falle aus hunderten und aberhunderten Tonnen Fels und Erdreich, die über ihm zusammenschnappte. Es waren vielleicht drei Schritte, die ihn von der rettenden Tür trennten, nur den Bruchteil eines Augenblicks, wäre er nur in der Lage gewesen, sich normal zu bewegen. Aber es war, als wate er durch halb erstarrten Teer.
Plötzlich erschien eine Gestalt vor ihm. Sie war zu weit entfernt, um ihn retten zu können, und nicht stark genug, die unzähligen Tonnen Felsgestein aufzuhalten, die sich erbarmungslos auf ihn herabsenkten, aber ihr bloßer Anblick gab Mogens noch einmal neuen Mut: eine widersinnige Hoffnung, die allein durch den Umstand genährt wurde, nicht mehr allein zu sein, sondern ein anderes menschliches Wesen in seiner Nähe zu wissen.
Nur, dass es kein menschliches Wesen war.
Mogens erstarrte mitten in der Bewegung und verschenkte die vielleicht unwiderruflich allerletzte Sekunde, die ihm das Schicksal doch noch einmal gewährt hatte, indem er die groteske, verkrüppelthaarige Kreatur anstarrte, die vor ihm aufgetaucht war. Es war das Ungeheuer, die Bestie aus seinen Albträumen, die Janice geholt hatte und nun gekommen war, um auch seinem Sterben zuzusehen. Sie war deutlich größer, als er sie in Erinnerung hatte, mit grässlichen Klauen und einem Schakalskopf: einer langen Hundeschnauze voller mörderischer Fänge, die Augen glühende Kohlen, die von uralter Bosheit und einer tückischen, funkelnden Intelligenz erfüllt waren. Geifer troff aus ihrem Maul, während sie Mogens anstarrte, und ihre schrecklichen Klauen öffneten und schlossen sich ununterbrochen, als könne sie es nicht mehr erwarten, ihre Fänge in Mogens' Fleisch zu schlagen und ihn zu zerreißen.
Statt den letzten, rettenden Schritt zu tun, trat Mogens zurück, eine Entscheidung, die trotz der kreischenden Panik, die seine Gedanken verheerte, ganz bewusst war: Lieber würde er den Tod unter den zusammenbrechenden Felsmassen erleiden, ehe er sich in die Gewalt dieses Ungeheuers begab.
Eine neuerliche, noch heftigere Erschütterung riss ihn von den Füßen. Er prallte erneut gegen den Quader, den das Beben halb aus der Wand gedrückt hatte, um seine verzweifelte Flucht zu stoppen, und beobachtete aus vor Entsetzen geweiteten Augen, wie sich die Decke über seinem Kopf bog und verschob und erste, noch kleinere Steine und Erdreich in seine Richtung spie, nicht groß genug, um ihn zu töten, aber allemal ausreichend, ihn zu verletzen und die letzten Sekunden seines Lebens in Momente grässlicher Qual zu verwandeln.
Es war nicht die Angst vor dem Tod, die Mogens noch einmal die Kraft gab, sich herumzuwerfen und unter demselben Steinquader Schutz zu suchen, der ihm gerade zum Verhängnis geworden war, sondern die Angst vor der Pein, die ihm vorausgehen mochte. Während er sich unter der halbmetergroßen künstlichen Felsnase zusammenkrümmte, beobachtete ein Teil von ihm mit kaltem, fast wissenschaftlichem Interesse, wie sich die Decke weiter durchbog wie eine nasse Zeltplane unter dem Gewicht des Regens und sich größere, tödlichere Steine daraus lösten, tonnenschwere Brocken, vor denen ihn auch der Quader nicht mehr schützen würde.
Plötzlich griff eine Hand nach ihm. Es war keine menschliche Hand, sondern eine haarige, klauenbewehrte Pranke, die sich mit unmenschlicher Kraft um sein Handgelenk schloss und ihn mit solcher Gewalt herumriss, dass Mogens vor Pein aufbrüllte und das Gefühl hatte, das Gelenk würde ihm aus der Schulter gerissen. Als er aufsah, bot sich ihm durch einen Nebel aus Schmerz und Furcht hindurch ein schier unglaublicher Anblick: Die Kreatur hatte ihn mit der linken Hand gepackt und zerrte ihn so mühelos hinter sich her, wie ein Riese ein widerspenstiges Kind mitgeschleift hätte.
Mit der anderen Hand stützte sie die Decke ab. So unglaublich es Mogens selbst in diesem Moment noch erschien: Die Kräfte der bizarren Kreatur schienen auszureichen, die tonnenschweren Steinquader wenn schon nicht an ihrem Fall zu hindern, so doch den Einsturz zumindest hinlänglich genug zu verlangsamen, um Zeit zu gewinnen, in Sicherheit zu gelangen.
Sicherheit?
Mogens bäumte sich auf und versuchte mit verzweifelter Kraft, den Griff der Bestie zu sprengen und sich loszureißen. Das Ungeheuer fuhr herum und versetzte ihm einen Hieb mit dem Handrücken. Seine Krallen zerfetzten Mogens' Hemd, hinterließen vier dünne, brennende Risse auf seiner Haut und ließen ihn halb benommen zurücksinken. Fast wie in Trance registrierte er, wie das Monstrum ihn brutal aus dem Gang herauszerrte, der unmittelbar hinter ihnen mit gewaltigem Getöse zusammenbrach. Halb besinnungslos, wie er war, versuchte er nach der Kreatur zu treten und traf sogar, aber das Ding schien es nicht einmal zu spüren. Vornüber gebeugt und humpelnd zerrte es ihn über den rauen Boden, bis sie die Mitte der Tempelkammer und die riesige geschnitzte Barke erreicht hatten, wo es ihn ablud und sich knurrend zu ihm umwandte. Gnadenlose, kalt glühende Augen starrten Mogens an, und das blasphemisch hündische Gesicht kam näher und beugte sich schnüffelnd über ihn.
11.
Mogens schlug nach ihm.
Die Bestie heulte vor Wut und Schmerz auf, zuckte zurück und schlug ihrerseits nach ihm, und dieser Hieb raubte Mogens endgültig das Bewusstsein.
Mogens schlug die Augen auf und stieß einen gellenden Schrei aus. Die Visage des Ungeheuers war über ihm, nur Zentimeter von seinem Gesicht entfernt und nahe genug, dass er ihren nach Verwesung und Aas stinkenden Atem riechen konnte. Grausame Augen taxierten ihn kalt, das schreckliche Maul war halb geöffnet, sodass er die fauligen, kreuz und quer stehenden nadelspitzen Fänge sehen konnte. Mogens warf sich herum und versuchte, der Kreatur die Fäuste gegen die Kehle zu schmettern. Aber er war viel zu langsam. Das Wesen wich seinem Hieb ohne die geringste Mühe aus, packte im nächsten Moment seine Handgelenke und hielt sie mit nur einer seiner riesigen Pranken fest; so als hätte sie Mogens' nächste Bewegung schon vorausgeahnt, noch bevor er selbst sich ihrer bewusst wurde: Mogens zog die Knie an, um dem Ungeheuer die Füße in den Leib zu rammen, aber das Ding blockierte seine Beine mit der anderen Pfote. »Professor?«
Der Griff des Ungeheuers war so hart wie Stahl. Mogens spürte, dass er nicht einmal die Spur einer Chance hatte, sich zu befreien, aber er kämpfte trotzdem mit der Kraft eines Wahnsinnigen weiter, warf sich herum, schrie und wand sich und versuchte zu treten. »Professor! Hören Sie auf! So beruhigen Sie sich doch!«
Mogens beruhigte sich nicht, sondern kämpfte im Gegenteil nur noch mit viel größerer Kraft, und eine Hand klatschte in sein Gesicht und warf seinen Kopf mit solcher Gewalt herum, dass ihm die Luft wegblieb. Erst nach einer Sekunde sah er wieder auf und es verging noch ein weiterer, quälend schwerer Herzschlag, bis das Gesicht des Albtraummonsters über ihm zerfloss und sich neu und auf fast unheimliche Weise zu dem eines Jungen mit fast mädchenhaft zerbrechlichen Zügen und schulterlangem blondem Haar zusammensetzte. Was sich nicht änderte, war der stählerne Griff, mit dem er Mogens' Handgelenke zusammenpresste.