»Alles in Ordnung mit Ihnen, Professor?«, fragte Tom. Nicht nur sein Blick, sondern vor allem der besorgte Ton in seiner Stimme machte Mogens klar, dass er nur ja zu sagen brauchte, um sich für alle Zeiten in Toms Augen lächerlich zu machen.
»Tom?«, murmelte er. »Du?«
Er zwang sich mit einer gewaltigen Willensanstrengung, seine Muskeln zu entspannen. Es verging noch ein Moment, aber als Tom spürte, dass Mogens' Widerstand erlahmte, ließ auch er seine Handgelenke los, und einen Moment später zog er auch die andere Hand zurück, die Mogens' Knie blockierte.
»Ist alles in Ordnung, Professor?«, fragte er zögernd.
Nichts war in Ordnung. Mogens hätte über die Frage gelacht, hätte er die Kraft dazu gehabt. »Entschuldige, Tom«, sagte er. »Es tut mir Leid. Ich... hatte wohl einen Albtraum.«
»Und dazu hast du auch allen Grund, Mogens.« Es war nicht Tom, der diese Worte sagte, und Mogens erkannte die Stimme schon mit der ersten Silbe, die sie aussprach. Und dennoch - nein: deswegen - dauerte es eine geschlagene Sekunde, bevor er die Kraft aufbrachte, den Kopf zu drehen und den Sprecher anzublicken.
»Jonathan?«, hauchte er ungläubig.
»Immerhin erinnerst du dich noch an meinen Namen«, sagte Graves spöttisch. Er lehnte mit vor der Brust verschränkten Armen an der Wand neben der Tür und sah mit einem Ausdruck auf Mogens herab, den dieser nicht zu deuten vermochte, der aber alles andere als angenehm war. »Das gibt Anlass zur Hoffnung. Vielleicht haben die Steine doch nicht alle deinen Kopf getroffen.«
Mogens nahm seine Worte nicht einmal zur Kenntnis. Tom ließ ihn endgültig los - wenn auch erst, nachdem er Graves einen fragenden Blick zugeworfen und dieser mit einem kaum merklichen Nicken sein Einverständnis signalisiert hatte -, und Mogens richtete sich in eine halb sitzende Position auf.
»Du... du lebst?«, murmelte er.
Graves sah ihn an, als müsse er ernsthaft eine Sekunde über diese Frage nachdenken. Auch dann antwortete er nicht sofort, sondern faltete die Arme auseinander, streifte seinen Hemdsärmel hoch und kniff sich selbst in den Unterarm.
»Au!«, sagte er. Dann wandte er sich grinsend an Mogens. »Ja, es fühlt sich zumindest so an, als wäre ich noch am Leben.« Sein Lächeln erlosch übergangslos. »Das ist mehr, als man um ein Haar von dir hätte behaupten können, Mogens. Wenn Tom nicht gewesen wäre, würden wir dieses Gespräch hier wohl kaum führen. Aber ich müsste mich wieder mit diesem Dummkopf von Sheriff herumschlagen.«
Mogens sah ihn verständnislos an, und Graves deutete mit einem glänzenden schwarzen Handschuh auf Tom. »Tom hat dir das Leben gerettet, Mogens. Gib Acht, dass das nicht zu einer schlechten Angewohnheit wird.«
Mogens blickte verständnislos von einem zum anderen. Graves grinste schon wieder, während Tom eindeutig mit jeder Sekunde verlegener wurde.
»Das war pures Glück«, sagte er stockend. »Ich war im richtigen Augenblick da, aber das war auch alles.«
»Ja, und mit ein bisschen weniger Glück wärst du jetzt tot«, fügte Graves hinzu. Er schüttelte den Kopf. »Du bist zu bescheiden, Tom.«
»Ich erinnere mich kaum, was passiert ist«, sagte Mogens - was nur zu einem geringen Teil der Wahrheit entsprach. Streng genommen erinnerte er sich an jeden einzelnen furchtbaren Augenblick der zurückliegenden Nacht - aber er konnte nicht sagen, was von diesen Erinnerungen echt und was nur Ausgeburt einer schrecklichen Fieberfantasie war. Er setzte sich weiter auf und verspürte einen heftigen, reißenden Schmerz im Knöchel, der ihm ein qualvolles Keuchen entlockte. Ganz eindeutig war nicht alles, woran er sich zu erinnern glaubte, bloße Einbildung.
»Was ist passiert?«, fragte er.
»Ein Erdbeben«, antwortete Graves und hob die Schultern. Zugleich machte er eine besänftigende Handbewegung. »Es war nicht besonders stark. Vielleicht sind in der Stadt ein paar Teller von den Regalen gefallen, aber das glaube ich nicht einmal.«
Das war es, was er sagte. Sein Blick jedoch sagte etwas ganz anderes. Mogens hielt ihm eine Sekunde lang stand, dann erwiderte er ihn mit einem fast ebenso unmerklich angedeutetem Nicken und wandte sich wieder direkt an Tom. »Mir wäre jetzt nach einer Tasse deines köstlichen Kaffees, Tom.«
Tom zögerte. Für einen Moment sah er regelrecht verloren aus, aber dann tauschte er wieder einen raschen und diesmal eindeutig Hilfe suchenden Blick mit Graves und stand schließlich auf, um mit schnellen Schritten das Haus zu verlassen.
»Der Junge hat dir das Leben gerettet, Mogens«, sagte Graves ernst. »Du solltest vielleicht ein wenig mehr Dankbarkeit zeigen.«
»Ich weiß«, murmelte Mogens. Graves hatte durchaus Recht, und sein schlechtes Gewissen regte sich und unterstrich seine Worte noch. Aber er war viel zu verwirrt, um auch nur einen klaren Gedanken zu fassen.
»Und du?«
Graves sah ihn fragend an.
»Wie bist du rausgekommen?«, verdeutlichte Mogens seine Frage. »Ich dachte, du... du wärst tot. Großer Gott, als dort unten alles zusammenbrach...«
»Für einen Mann, der von sich behauptet, ein überzeugter Agnostiker zu sein, nimmst du den Namen des Herrn ziemlich oft in den Mund«, spottete Graves. Er schüttelte den Kopf und machte zugleich eine Bewegung, die an ein halbes Achselzucken erinnerte. »Es war dann doch nicht so schlimm, wie es im ersten Moment schien. Ich hatte mehr Angst um dich als um mich, Mogens. Du hättest zu mir kommen sollen, statt davonzulaufen. Als ich dich in den Tunnel rennen sah, da glaubte ich, es wäre um dich geschehen. Das war ziemlich dumm, Mogens. Wenn Tom dich nicht gefunden hätte, dann wärst du jetzt tot.«
Tom. Etwas an diesem Namen klang... falsch in Mogens' Ohren. Er versuchte sich an die vergangene Nacht zu erinnern, aber in seinem Kopf stürzten die Gedanken und Bilder wild durcheinander. Da war etwas, doch es wollte ihm einfach nicht gelingen, die Erinnerung zu fassen. Ein grässliches Gesicht mit einer Hundeschnauze und rot glühenden Augen, Krallen, die sein Hemd ebenso mühelos zerfetzten wie die Haut darunter...
Mogens richtete sich vollends auf und sah an sich herab. Sein Hemd starrte vor Dreck und war über Brust und Schulter zerrissen. Auf seiner kaum weniger verdreckten Haut darunter waren vier dünne, verkrustete Linien zu sehen, die wie Feuer brannten. Kratzer, die er sich bei seiner verzweifelten Flucht zugezogen hatte.
»Du willst ihm das doch nicht etwa vorhalten, oder?«, fragte Graves. »Der arme Junge macht sich auch so schon genug Vorwürfe, dich allein gelassen zu haben, statt draußen im Gang auf dich zu warten, wie er es versprochen hatte.«
Mogens schwieg. Selbstverständlich war ihm klar, wie unsinnig dieser Gedanke war, aber für ihn waren diese Risse die Schrammen, die die Krallen des Ungeheuers in seine Haut gerissen hatten...
Er schüttelte den Gedanken ab. »Was war das, da drinnen?«, murmelte er. »Haben... haben wir das getan?«
»Das Erdbeben?« Graves lachte. »Kaum. Ich hoffe, du glaubst mir jetzt etwas mehr, Mogens. Die gesamte Tempelanlage versinkt in der Erde. Uns bleibt nicht mehr allzu viel Zeit.«
Es dauerte einen Moment, bis Mogens wirklich begriff, was Graves mit diesen Worten sagen wollte. Er richtete sich kerzengerade auf. »Du... du willst noch einmal dort hinunter?« Schon bei der bloßen Vorstellung, erneut diesen furchtbaren Raum aufzusuchen, zog sich sein Magen zu einem harten Klumpen zusammen.