»Was dachtest du?«, antwortete Graves. »Mogens, du hast doch nicht etwa vergessen, was wir gestern erlebt haben?« Er begann aufgeregt mit den Händen zu fuchteln. »Wir haben es geschafft, Mogens! Du hast es geschafft! Wir haben den Beweis.«
»Du willst noch einmal dorthin?«, vergewisserte sich Mogens. Seine Stimme wurde zu einem tonlosen Krächzen. »Du... du willst diese Tür öffnen?«
»Du etwa nicht?«
»Aber das dürfen wir nicht«, antwortete Mogens. »Jonathan, du musst es doch auch gespürt haben!«
»Gespürt?« Graves' Augen wurden schmal. Seine Hände hörten auf, hektische Bilder in die Luft zu malen, und erstarrten in einer zupackenden Geste. Mogens wurde klar, dass er einen Fehler gemacht hatte. Aber es war zu spät, ihn zu korrigieren. »Da ist also noch mehr«, fuhr Graves nach einer Weile fort. »Ich hatte Recht! Diese Kammer ist nur der Eingang! Das wahre Geheimnis wartet erst noch darauf, entdeckt zu werden!«
Mogens musste an die beiden gewaltigen Götzenbilder denken, die das Tor bewachten, und eine Klaue purer Angst krallte sich in seine Seele. Obwohl er wusste, dass es ein weiterer Fehler war, fuhr er fort: »Du hast Recht, Graves. Da ist etwas hinter dieser Tür. Aber es hat einen Grund, dass sie verschlossen ist.« Er schauderte. »Bist du noch gar nicht auf die Idee gekommen, dass, was immer sich hinter dieser Tür befindet, vielleicht dort eingesperrt worden ist?«
»Jetzt bist du es, der Unsinn redet«, sagte Graves.
»Nein!« Mogens sprang auf und sank gleich darauf stöhnend wieder auf die Bettkante zurück, als ihm prompt schwindelig wurde. Nicht mehr schreiend, aber in fast verzweifelt flehendem Ton fuhr er fort: »Großer Gott, Graves, reicht dir wirklich nicht, was da drinnen geschehen ist?«
»Was da drinnen...?« Graves riss verblüfft die Augen auf. »Mogens, du glaubst doch nicht im Ernst, dass wir an diesem Unglück schuld sind?«
»Du etwa nicht?«
Graves' Stimme wurde fast sanft. »Das war ein Erdbeben. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Ein ganz normales Erdbeben, wie es in dieser Gegend nicht einmal unüblich ist. Du kannst nicht ernsthaft glauben, dass wir irgendetwas damit zu schaffen haben.«
Nein, es war keine Sache des Glaubens. Er wusste es. Sie hatten etwas geweckt, etwas, das seit Urzeiten hinter jener verschlossenen Tür eingesperrt war und auf ihre bloße Anwesenheit reagiert hatte. Was sie gespürt hatten, das war vielleicht nicht mehr als ein flüchtiges Räuspern gewesen, kaum mehr als das Zucken eines Giganten, der sich im Schlaf regte. Und dennoch hatte die Erde gebebt und Felsen waren geborsten. Was mochte geschehen, wenn sie diesen Koloss weckten? »Ich werde nicht wieder dort hinuntergehen, Jonathan«, sagte er leise, aber sehr ernst und mit bitterer Entschlossenheit. »Nie wieder.«
Graves seufzte. »Du bist jetzt verwirrt, Mogens. Du wärst um ein Haar ums Leben gekommen, Vielleicht sollte ich nicht zu viel von dir verlangen.« Er löste sich von seinem Platz an der Tür. »Tom wird dir einen starken Kaffee brühen, und danach kümmert er sich um deine Verletzungen. Wir unterhalten uns später noch einmal, wenn du dich beruhigt hast.«
12.
Tom kam nicht, um den versprochenen Kaffee zu bringen, worüber Mogens aber nicht gram war. So sehr er sich im Moment auch davor fürchtete, allein zu sein, so wenig wollte er Tom in diesem Augenblick sehen. Es spielte keine Rolle, dass ihm sein Verstand sagte, dass er Tom bitter Unrecht tat. Die vermeintliche Erinnerung, die ihm seine entfesselte Fantasie vorgaukelte, war einfach zu entsetzlich, als dass er Tom in diesem Moment unbefangen hätte gegenübertreten können.
Er verschloss die Tür, zog sich aus und wusch sich, so gut es ging, mit kaltem Wasser. Er hatte nichts, um seine Verletzungen zu versorgen, aber dies erwies sich auch kaum als notwendig: Sein ganzer Körper fühlte sich zwar an wie ein einziger blauer Fleck - und er sah auch beinahe so aus -, aber mit Ausnahme der vier Schrammen, die auf seiner linken Schulter begannen und sich quer über seine Brust zogen, schien er tatsächlich ohne einen Kratzer davongekommen zu sein. Selbst sein Knöchel, der immer noch schmerzte, war kaum angeschwollen; zumindest schien er nicht gebrochen, ja, nicht einmal ernsthaft verstaucht zu sein. War dies auch, wie alles andere in der unterirdischen Kammer, Ausgeburt eines Fiebertraums gewesen?
Nachdem er die Schrammen notdürftig gesäubert hatte, stellte er fest, dass sie nicht annähernd so tief waren, wie es sich anfühlte. Sie brannten wie Feuer, sahen aber wirklich aus, als hätten menschliche Fingernägel sie hinterlassen, nicht die Krallen eines mythischen Ungeheuers. Mogens zog sich um - sein Vorrat an sauberen und vor allem unbeschädigten Kleidern begann rapide zusammenzuschmelzen - und überlegte gerade, unter welchem Vorwand er doch zu Tom gehen und sich bei ihm entschuldigen und vor allem sich für die neuerliche Lebensrettung bedanken konnte, als er das Geräusch eines Automobils hörte, das draußen vorfuhr.
Mogens trat ans Fenster und runzelte überrascht die Stirn. Der Wagen fuhr nicht in so halsbrecherischem Tempo wie bei seinem ersten Besuch, aber es war ganz eindeutig Sheriff Wilsons Streifenwagen, und er steuerte auch diesmal direkt Graves' Hütte an. Mogens meinte hinter der verdreckten Windschutzscheibe eine zweite Gestalt zu erkennen, die neben der des Sheriffs saß. Wilson war nicht allein gekommen.
Ihm war klar, dass Graves alles andere als erfreut reagieren würde, dennoch verließ er die Hütte und ging mit raschen Schritten los. Es war ihm gleich, was Graves meinte. Tief in seinem Innern hatte er längst beschlossen, nicht länger hier zu bleiben. Es war ein Fehler gewesen, überhaupt zu kommen, und ein noch viel größerer Fehler, Graves zu trauen. In seinem verzweifelten Bemühen, sein Schicksal doch noch einmal herumzureißen, hatte er geglaubt, was er glauben wollte, und vergessen, was ein Teil von ihm mit unerschütterlicher Gewissheit wusste: dass alles, was Jonathan Graves berührte, unweigerlich verderben musste.
Er hatte sich nicht getäuscht: Wilson war nicht allein gekommen. Während er aus dem Wagen stieg und seinen übergroßen Hut aufsetzte, öffnete sich auch die Beifahrertür, und ein untersetzter, elegant gekleideter Mann mit schütterem Haar und Brille stieg aus. Er wäre Mogens viel sympathischer gewesen, hätte er sich nicht mit Blicken umgesehen, in denen mühsam verhaltene Wut funkelte.
»Sheriff Wilson.«
»Professor.« Wilson tippte wieder mit zwei Fingern an den Rand des Cowboyhutes und schenkte ihm ein knappes, aber eindeutig ehrlich gemeintes Lächeln. Sein Begleiter drehte sich um und sah Mogens mit einem Ausdruck gelinder Überraschung an, der vermutlich seinem akademischen Titel galt. Er sagte nichts, aber der Zorn in seinen Augen schien sogar noch zuzunehmen. Mogens verstand das nicht.
Er kam auch nicht dazu, eine entsprechende Frage zu stellen, denn in diesem Moment flog die Tür hinter ihnen so ungestüm auf, dass sie mit einem Knall gegen die Wand prallte, und Graves stürmte heraus.
»Steffen!«, brüllte er. Sein Gesicht war vor Wut rot angelaufen. »Wie oft muss ich Ihnen noch sagen, dass...«
Er brach mitten im Wort ab, als er Mogens bemerkte, atmete hörbar ein und wandte sich dann mit einer gezwungen ruhigen Bewegung zu Wilson um.
»Sheriff Wilson, ich fordere Sie auf, diesen Mann von meinem Grund und Boden zu entfernen. Doktor Steffen und seine Mitarbeiter haben von mir ausdrückliches Hausverbot erhalten.«
Steffen setzte zu einer geharnischten Erwiderung an, doch Wilson brachte ihn mit einem raschen Blick zum Verstummen und wandte sich direkt an Graves. »Das ist mir bekannt, Doktor Graves«, sagte er. »Ich bitte Sie jedoch, Doktor Steffen zumindest anzuhören. Was er zu sagen hat, könnte wichtig sein - auch für Sie und Ihre Mitarbeiter.«