»Bitte entschuldigen Sie mich einen Moment«, sagte er. »Ich bin gleich zurück.«
Er ging, und zu Mogens' Enttäuschung schloss sich Tom an und verließ unmittelbar hinter ihm das Haus. Bevor sich die Tür schloss, konnte Mogens ein helles Scheinwerferpaar draußen vor dem Haus erkennen. Ein Wagen war vorgefahren.
»Was bedeutet das?«, fragte Miss Preussler.
Mogens hob nur die Schultern. Er wusste es nicht - und es interessierte ihn im Augenblick auch nicht. »Miss Preussler, ich bitte Sie!«, sagte er beschwörend. »Trauen Sie diesem Mann nicht! Sie wissen nicht, wer er wirklich ist!«
Miss Preussler wirkte ein wenig irritiert. Sie sah unsicher zu der Tür hin, durch die Graves und Tom verschwunden waren, und versuchte schließlich zu lächeln, aber es geriet eher zu einem Ausdruck der Hilflosigkeit. »Ich finde, dass er eigentlich ein ganz netter Mann ist«, sagte sie schleppend. »Man sollte ihm wenigstens eine Chance geben, meinen Sie nicht?«
»Das hat sich vor einer Woche in Thompson aber noch ganz anders angehört«, erinnerte sie Mogens.
»Nun, da hatte ich ja auch noch keine Ahnung von dem schrecklichen Schicksalsschlag, der ihn getroffen hat«, antwortete sie. Ihre Stimme wurde leiser. »Ich wusste ja gar nicht, dass Ihr Beruf so gefährlich ist, Professor.«
Mogens zog vielsagend die Augenbrauen zusammen. Er hatte sich jeden Kommentar zu der Geschichte gespart, die Graves ihnen aufgetischt hatte, aber das bedeutete nicht zwangsläufig, dass er sie auch glaubte. Er hatte nie von einer Krankheit gehört, die mit solchen Symptomen einherging, wie Graves sie beschrieben hatte. Und auch nicht von einem Gift, das eine derartige Wirkung zeigte. Außerdem beschränkte sich die unheimliche Verwandlung, die manchmal mit Graves vonstatten zu gehen schien, längst nicht auf seinen Körper. Ganz und gar nicht. Aber gleichwie - Graves' Geschichte hatte ihren Zweck eindeutig erfüllt: Er hatte Miss Preusslers Mitleid erregt, und jemand, den Betty Preussler einmal in ihr großes Herz geschlossen hatte, der hatte kaum eine Chance, jemals wieder daraus zu entkommen.
»Ich bitte Sie einfach, ihm nicht zu trauen«, sagte er. »Bitte glauben Sie mir, Miss Preussler. Ich kenne Jonathan Graves besser als Sie. Dieser Mann ist«, er suchte vergeblich nach einem passenden Wort und schloss schließlich mit einem Achselzucken, »... schlecht.«
Das traf es nicht einmal annähernd, aber es gab kein Wort um zu beschreiben, was er für Jonathan Graves empfand.
»Aber was ist denn nur so schrecklich an dem, was Sie dort unten entdeckt haben?«, fragte Miss Preussler.
»Das kann ich Ihnen nicht sagen«, antwortete Mogens. »Warum glauben Sie mir nicht einfach?«
»Weil es nicht sonderlich fair ist, einen Mann anzugreifen und ihm nicht die Möglichkeit zu geben, sich zu verteidigen«, antwortete Miss Preussler.
Und so ging es weiter. Mogens war von Miss Preusslers plötzlichem Sinneswandel so überrascht, dass er sich regelrecht beherrschen musste, um nicht wütend zu werden. Er hatte keine Ahnung wie - was umso erstaunlicher war, da er ja schließlich die ganze Zeit dabei gesessen hatte -, aber irgendwie war es Graves gelungen, Miss Preussler nahezu auf seine Seite zu ziehen. Sie diskutierten gute fünf Minuten in mühsam beherrschter, aber angespannter Stimmung, und Mogens war - absurd genug - regelrecht erleichtert, als Graves schließlich zurückkam.
Er war sehr blass. Sein Blick wich dem Mogens' und Miss Preusslers aus, während er zu seinem Platz ging und sich setzte.
»Ist... etwas passiert?«, fragte Miss Preussler zögernd.
Graves schenkte sich ein Glas Cognac ein, bevor er antwortete. Seine Hände zitterten leicht, sodass der Flaschenverschluss aus geschliffenem Kristall hörbar klirrte. »Das war Sheriff Wilson«, sagte er.
»Was wollte er?« Mogens richtete sich kerzengerade auf. Ein ungutes Gefühl begann sich in ihm breit zu machen.
»Es hat einen Unfall gegeben«, antwortete Graves. Er stürzte den Inhalt seines Glases mit einem einzigen Zug herunter und machte eine Bewegung, wie um sich unverzüglich nachzuschenken, setzte das Glas dann aber wieder ab und zündete sich stattdessen eine weitere Zigarette an.
»Einen Unfall? Was für ein Unfall?« Mogens beugte sich erregt vor. »Jonathan, so lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen!«
»Mercer«, sagte Graves leise. »Und McClure.« Er nahm einen tiefen, fast gierigen Zug aus seiner Zigarette. »Sie sind tot. Und Hyams wahrscheinlich auch.«
Mogens starrte ihn aus ungläubig aufgerissenen Augen an, und Miss Preussler hob erschrocken die Hand vor den Mund, wie um einen Schrei zu ersticken.
»Ihre Kollegen?«, hauchte sie. »Aber das ist ja entsetzlich!«
»Was ist geschehen?«, fragte Mogens noch einmal, und jetzt in scharfem, fast zornigem Ton.
Graves hob andeutungsweise die Schultern. »Wilson konnte mir noch keine Einzelheiten sagen«, antwortete er. »Nur so viel, dass sie wohl von der Straße abgekommen und eine Böschung hinabgestürzt sind, wobei der Wagen offensichtlich in Flammen aufgegangen ist. Nicht einmal weit von hier - sie haben es gerade bis zur anderen Seite des Friedhofs geschafft. Mercer und McClure sind im Wagen verbrannt.«
»Und Doktor Hyams?«, fragte Mogens.
»Sheriff Wilson vermutet, dass sie aus dem Wagen geschleudert wurde«, antwortete Graves. »Aber er sagt, dass sie wohl keine Überlebenschance gehabt hat, so, wie das Wrack des Automobils aussieht.«
»Dann hat man sie noch nicht gefunden?«, fragte Miss Preussler.
Allein der Blick, der Graves' Kopfschütteln begleitete, machte die schwache Hoffnung zunichte, die bei Miss Preusslers Frage in Mogens aufgeglommen war. »Nein«, sagte er. »Sie mussten die Suche abbrechen, wegen des Unwetters und der hereinbrechenden Dämmerung.«
»Und wenn die arme Frau vielleicht doch noch lebt und nun schwer verletzt dort draußen liegt?«, fragte Miss Preussler.
»Ich kenne die Stelle, wo es passiert ist«, antwortete Graves. »Glauben Sie mir, niemand, der mit dem Wagen dort hinunterstürzt, hat auch nur die kleinste Aussicht zu überleben. Es ist schon tagsüber gefährlich dort; deshalb hat Wilson seine Männer auch abgezogen, doch sobald es hell geworden ist, machen sie weiter.« Er schlug so plötzlich und warnungslos mit der flachen Hand auf den Tisch, dass Mogens erschrocken zusammenzuckte. »Mercer, dieser verdammte Idiot! Ich habe ihm hundertmal gesagt, er soll die Finger vom Schnaps lassen!«
»Du glaubst, er war betrunken?«, fragte Mogens.
»Mercer war immer betrunken«, schnappte Graves. »Wäre er nicht so ein hervorragender Wissenschaftler gewesen, hätte ich ihn schon längst rausgeworfen.«
»Mein Gott, wie furchtbar«, flüsterte Miss Preussler. Cleopatra hob den Kopf, sah Graves an und fauchte. Graves warf der Katze einen Blick zu, als wolle er sie damit aufspießen, goss sich nun doch einen weiteren Cognac ein und drehte das Glas in den Fingern, allerdings ohne zu trinken. Dann stand er mit einem Ruck auf.
»Ihr werdet eure Abreise ein wenig verschieben müssen, fürchte ich«, sagte er in verändertem Ton und direkt an Mogens gewandt. »Sheriff Wilson bittet uns, ihm morgen Vormittag zur Verfügung zu stehen. Er hat noch ein paar Fragen an uns.«
Mogens nickte. »Selbstverständlich.«
»Es tut mir aufrichtig Leid, dass dieser schöne Abend einen so unschönen Abschluss finden muss.« Er wandte sich an Miss Preussler. »Tom zeigt Ihnen Ihre Unterkunft.«
19.
Es wurde alles andere als eine ruhige Nacht. Mogens hatte - gemeinsam mit Tom, der ebenso bleich und schweigsam geworden war wie Graves - Miss Preussler zu der Blockhütte begleitet, die Doktor Hyams bis zu diesem Morgen bewohnt hatte. Tom hatte auch hier aufgeräumt und zumindest oberflächlich für Sauberkeit gesorgt; was Miss Preusslers Ansprüchen normalerweise niemals genügt hätte. Heute jedoch nahm sie es nur mit einem knappen, dankbaren Lächeln zur Kenntnis und sagte darüber hinaus gar nichts. Auch sie wirkte schockiert, obwohl sie Hyams und die beiden anderen gar nicht gekannt hatte. Mogens druckste noch eine Weile herum und war dann froh, sich unter einem Vorwand verabschieden zu können.