Obwohl es noch relativ früh war, versuchte er zu schlafen, aber er warf sich bestimmt eine Stunde ruhelos auf seinem Bett hin und her, bevor er endlich in einen unruhigen, von sinnlosen Träumen heimgesuchten Schlummer fiel, aus dem er immer wieder hochschrak.
Das letzte Mal erwachte er nicht von selbst, sondern weil jemand neben seinem Bett stand. Mogens fuhr erschrocken hoch und blinzelte die massige Gestalt für die Dauer von zwei oder drei angsterfüllten Herzschlägen benommen an, bevor er sich weit genug aus den Klauen des Albtraums befreien konnte, den er gerade noch durchlitten hatte, um sie zu erkennen.
In gewissem Sinne zumindest war das, was er sah, selbst ein Bild wie aus einem Albtraum. Miss Preussler stand, in einen dunkelroten Morgenmantel gehüllt, der ganz eindeutig schon bessere Zeiten gesehen hatte, neben seinem Bett und hielt eine brennende Kerze in der Rechten. Mit der anderen Hand hielt sie ihren Morgenrock über der Brust zusammen, aber Mogens konnte nicht entscheiden, ob sie nun befürchtete, jemandem einen unschicklichen Einblick in ihre Kleider zu gewähren oder vielmehr Angst davor hatte, deren Inhalt könnte unkontrolliert herausquellen. Sie trug anscheinend keine Korsage, was zur Folge hatte, dass ihr ohnehin nicht gerade elfenhafter Körper in alle Richtungen auseinander zu fließen schien. Ihr Haar hing wirr und strähnig herab, das Gesicht wirkte teigig und ein wenig verquollen, und auch mit ihren Zähnen stimmte etwas nicht. Als sie den Mund öffnete, um zu reden, sah Mogens, dass etliche davon fehlten.
»Miss Preussler«, murmelte er, während er sich, noch immer ein wenig schlaftrunken, aufsetzte.
»Ich... äh... bitte, verzeihen Sie die Störung zu dieser unmöglichen Stunde«, sagte Miss Preussler zögernd. Es war ihr sichtbar peinlich, mitten in der Nacht - und noch dazu in diesem Aufzug! - vor ihm zu erscheinen. »Aber ich kann Cleopatra nicht finden.«
»Cleopatra?«
»Meine Katze, Professor.«
»Ich weiß, wer Cleopatra ist, Miss Preussler«, erwiderte Mogens ruhig.
»Ich... ich kann sie nicht finden, Professor«, sagte Miss Preussler. »Sie ist fort.«
Immer noch ein wenig benommen setzte er sich vollends auf und angelte umständlich nach seiner Weste, um einen Blick auf das Ziffernblatt der Taschenuhr zu werfen. So unruhig er geschlafen hatte, ebenso schwer fiel es ihm, wirklich aufzuwachen. Er starrte eine geschlagene Sekunde auf das Ziffernblatt, das unter dem verschnörkelten Deckel zum Vorschein kam, bevor er die Uhrzeit erkannte: Es war ein gutes Stück nach Mitternacht. »Fort«, wiederholte er müde.
Miss Preussler nickte ein paar Mal. Die Kerze in ihrer Hand zitterte stärker und erweckte Schatten und andere, finsterere Dinge zu scheinbarem Leben. »Sie war so unruhig, dass ich sie am Ende hinausgelassen habe. Aber sie ist nicht wieder gekommen. Ich habe länger als eine Stunde gewartet und immer wieder nach ihr gerufen, aber sie ist nicht zurückgekommen. Ich mache mir Sorgen, dass ihr etwas zugestoßen ist.«
Mogens starrte weiter auf das Ziffernblatt. Es fiel ihm immer noch schwer, so etwas wie Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Es fiel ihm auch schwer, weiterhin die Ruhe zu bewahren. Selbst halb benommen, wie er noch war, konnte ihm nicht entgehen, wie unangenehm Miss Preussler die Situation war - was nichts daran änderte, dass er sich im gleichen Maße mehr über sie ärgerte, in dem sich seine Gedanken klärten.
»Miss Preussler«, sagte er mühsam beherrscht. »Cleopatra ist eine Katze, und Katzen sind vornehmlich nachtaktive Tiere. Ich glaube nicht, dass Sie sich allzu große Sorgen um sie machen sollten, nur weil sie ein wenig herumstreicht.«
»Aber das hier ist eine vollkommen fremde Umgebung für Cleopatra, und so lange ist sie noch nie weggeblieben«, antwortete Miss Preussler. »Sie kommt normalerweise immer, wenn ich sie rufe!«
»Und was soll ich Ihrer Meinung nach jetzt tun, Miss Preussler?«, fragte er.
»Ich dachte, Sie... Sie könnten vielleicht... Tom«, begann Miss Preussler. »Vorhin ist sie doch auch bei ihm gewesen, und... und ich weiß ja noch nicht einmal, wo ich ihn finde, und außerdem kann ich doch nicht zu ihm gehen, mitten in der Nacht und... und so wie ich bin.«
Mogens klappte den Uhrendeckel zu und sah demonstrativ zu Miss Preussler hoch. Nein, dachte er, das konnte man dem armen Jungen wirklich nicht antun. »Also gut«, seufzte er. »Ich werde zu Tom hinübergehen und ihn fragen, ob er Cleopatra gesehen hat.«
Miss Preussler strahlte. »Das ist wirklich zu freundlich von Ihnen, Professor.« Sie schien darauf zu warten, dass er aufsprang und unverzüglich aus dem Haus stürmte, aber Mogens rührte sich nicht, sondern sah nur seinerseits auffordernd zu ihr hoch. Auf diese Weise vergingen geschlagene fünf Sekunden, bis Mogens sich endlich räusperte und eine Kopfbewegung zur Tür machte.
»Professor?«
»Ich würde mich gerne anziehen«, sagte Mogens sanft.
»Oh.« Miss Preussler fuhr erschrocken zusammen und sah mit einem Male noch verlegener aus. »Natürlich. Bitte verzeihen Sie, Professor. Ich bin aber auch manchmal...« Zu Mogens' Erleichterung sprach sie den Satz nicht zu Ende, sondern drehte sich endlich um und ging. Ein Windstoß löschte die Flamme ihrer Kerze, als sie das Haus verließ, doch in dem winzigen Bruchteil einer Sekunde, der verging, bevor die Dunkelheit das Licht endgültig besiegte, schienen die Schatten eine andere Qualität anzunehmen, als hätten sie sich zu Dingen verdichtet, Dingen mit Reißzähnen und Klauen und peitschenden Tentakeln voller schrecklicher Saugmünder, die sich auf ihn zu stürzen versuchten. Diesmal war es die Dunkelheit, die sich als sein Verbündeter erwies, denn die grotesken Manifestationen hatten nur in dem zeitlosen Moment zwischen Dunkelheit und Licht Bestand, nicht in einem von beidem. Was zurückblieb, war ein tiefer, namenloser Schrecken, der Mogens auf eine Weise berührte, die er noch nie zuvor kennen gelernt hatte.
Er schüttelte den Gedanken ab, stand auf und tastete im Dunkeln nach seinen Kleidern. Nur noch ein letzter Rest des Albtraumes, aus dem er anscheinend immer noch nicht vollkommen erwacht war, tröstete er sich. Etwas anderes konnte es nicht gewesen sein. Die Bilder waren einfach zu absurd gewesen, so bizarr, dass sie in ihrer Grässlichkeit schon fast wieder lächerlich wirkten.
Warum aber verzichtete er dann darauf, Licht zu machen, sondern zog sich stattdessen in vollkommener Dunkelheit an und tastete sich auf die gleiche Weise auch zur Tür?
Mogens war überrascht, wie hell es war, als er aus dem Haus trat. Der Mond war noch schmaler geworden und stand als sichelförmige Linie am Himmel, die kaum mehr nennenswertes Licht spendete. Aber der abgezogene Sturm hatte auch die Wolken mitgenommen, und am Himmel funkelte eine erstaunliche Anzahl von Sternen, die ein bleiches, farbenverzehrendes Licht verbreiteten, und in dem morastigen Boden hatten sich zahllose Pfützen gebildet, die das Licht zusätzlich reflektierten. Noch etwas hatte sich verändert, aber es dauerte eine Weile, bis Mogens erkannte, was: Die Brücke aus Planken und gehobelten Bohlen, die Tom über den morastigen Platz gelegt hatte, war verschwunden. Tom hatte keine Zeit verloren. Und er schien - so ganz nebenbei - auch keinen Schlaf zu benötigen.
Mogens sah flüchtig zu Graves' Hütte hin und stellte fest, dass hinter ihren schmalen Fenstern noch Licht brannte - was ihn nicht unbedingt überraschte. Graves würde keine besonders gute Nacht haben. Mogens' Mitleid mit ihm hielt sich jedoch in Grenzen. Ihm war auch nicht nach einer Unterhaltung mit Graves, sodass er sich in die entgegengesetzte Richtung wandte, um zu Tom zu gehen. Er glaubte nicht, dass Cleopatra dort war - vermutlich trieb sie sich irgendwo im Wald herum oder streifte auf der Suche nach einer fetten Maus durch die Büsche, und Mogens war nicht annähernd so sicher, wie er Miss Preussler gegenüber getan hatte, dass Cleopatra tatsächlich nach ein paar Stunden freiwillig zurückkehren würde. Möglicherweise hatte Miss Preussler einen schweren Fehler gemacht, indem sie ihre Katze mit hierher brachte. Mogens verstand nicht allzu viel von Katzen, aber er wusste, dass selbst lang domestizierte Haustiere manchmal wieder verwilderten, wenn sie einmal die Freiheit geschmeckt hatten, vor allem in einer fremden Umgebung.